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■ Der Westen entdeckt die Kinder von SarajevoHumanity Public Relations Inc.

Seit 16 Monaten ist Sarajevo von serbisch-bosnischen Truppen eingeschlossen. Seit einem Jahr berichten Journalisten, durchreisende Politiker und nicht zuletzt die behandelnden Ärzte vom Zusammenbruch der medizinischen Versorgung. Vor einer Woche, ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, als die Regierung von Bosnien-Herzegowina sich gezwungenermaßen mit der Teilung des Landes abfindet, entdecken einige westliche Staatsmänner, daß in den Kliniken von Sarajevo Kinder um ihr Leben kämpfen. Jetzt wird die humanitäre Maschine in Bewegung gesetzt, Spezialisten eilen nach Sarajevo, um aus dem „Krankenmaterial“ die kleinen KandidatInnen der Rettungsaktion auszuwählen. Die Royal Air-Force beschwert sich, daß nicht sie, sondern ein russisches Charterflugzeug mit dem ersten Flug betraut wurde. John Major verkündet, man werde sich durch nichts davon abhalten lassen, weitere Kinderleben zu retten. Am Wochenanfang steht dann fest: no more flights.

Dr. Anadi Begić, Direktor der Abteilung für plastische Chirurgie am Kosovo-Krankenhaus in Sarajevo, schreibt vergangenes Wochenende an den britischen Premierminister. „Gestern haben Sie 21 Kranke evakuiert, darunter 7 Kinder. Ein Tropfen im Ozean. Ich fürchte, das wird nicht reichen, um unsere Meinung über Ihr Gewissen oder Ihren guten Willen aufzubessern.“ Braucht es auch nicht. Im Fadenkreuz dieser Publicity-Aktion steht ausschließlich das einheimische Publikum, das gutherzige, das sich so schnell erregt und das so leicht vergißt.

Das Kosovo-Krankenhaus in Sarajevo war eines der modernsten Jugoslawiens und konnte mit jeder x- beliebigen Bettenburg im westlichen Europa konkurrieren. Jetzt fehlt es trotz der Luftbrücke an Instrumenten, Medikamenten, an Elektrizität und schließlich auch an Ärzten. Viele haben ihr Leben gelassen, viele sind geflohen. Dieses Krankenhaus hätte zur speziellen UNO-Schutzzone erklärt werden und Dr. Owen, von Beruf aus Kinderarzt, hätte darin einer nützlichen Tätigkeit nachgehen können. Aber warum sollte zu irgendeinem Zeitpunkt und an irgendeinem Ort die stinkende Doppelmoral durchbrochen werden, die es den westlichen Staaten gleichzeitig erlaubt, die Täter anzuklagen und keinen Finger für die Rettung der Opfer zu rühren? Die sieben ausgeflogenen Kinder sind jetzt in unserer, in der besten medizinischen Obhut, und wir können, die morgendlichen Krankenhaus-Bulletins lesend, um den Erfolg der ärztlichen Bemühungen bangen. Wenn sie groß sind, werden sie vielleicht Staatsbürger in einem der westlichen Staaten werden, lebende Zeugnisse unseres humanitären Engagements. Christian Semler

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