: Eine Einzelfallprüfung entfällt
In Berlin erhalten Tausende von Kriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien keine Duldung mehr / Senat hält Zusicherungen nicht ein / Beratungsstellen sind überlastet ■ Aus Berlin Vera Gaserow
„Wichtige Information!“ ist der Handzettel überschrieben. Jeden Morgen wird er von den Mitarbeitern der Berliner Ausländerbehörde an die Schlange stehenden Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien verteilt. Die „wichtige Information“ besteht aus einem Satz und ist unmißverständlich: „Ab sofort erhalten nur noch Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina und kroatische Staatsangehörige, die vor dem 22.5.1992 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, Duldungen. Ihr Landeseinwohneramt“. Fehlt nur noch der Zusatz: „gute Heimreise“, denn die wichtige Information bedeutet, daß mehrere tausend Kriegsflüchtlinge, die Berlin bisher ausländerrechtlich geduldet hatte, das Land verlassen sollen. So hat es der Innensenat Ende Juli mit sofortiger Wirkung beschlossen. (taz vom 7.8.93)
Was der Handzettel den Betroffenen in ihrer Landessprache mitteilt, darf in der Öffentlichkeit nicht wahr sein. „Selbstverständlich behalten Personen aus dem von Bürgerkrieg bedrohten Gebieten des ehemaligen Jugoslawien Bleiberecht“, erklärt Innen-Staatssekretär Armin Jäger dreist gegenüber der Presse, während seine Ausländerbehörde den ersten Kriegsflüchtlingen aus Serbien, Kroatien oder Kosovo schon längst die Ausreiseaufforderungen in den Paß stempelt.
Was offiziell gar nicht existiert, hat innerhalb von zehn Tagen die Flüchtlingsberatungsstellen an den Rand des Kollaps gebracht. „Reihenweise kommen die Leute mit den Ausreiseaufforderungen. Die Flüchtlinge sind in Panik. Der Andrang ist so groß, daß wir abends nicht mehr wissen, wie wir überhaupt heißen,“ berichtet Birgit Ammann von der Flüchtlingsberatung der Arbeiterwohlfahrt. „Wir ersticken in Arbeit“ klagt auch Jasenka Villbrandt, Beraterin im jugoslawischen Frauenladen, „die Flüchtlinge kommen, mit der Ausreiseaufforderung und können es noch gar nicht glauben, daß sie gehen sollen. Einige wandern von Beratungsstelle zu Beratungsstelle und hoffen, daß der Kollege dort ein Wunder vollbringt.“
Auch Emina H. hofft auf ein Wunder. Vor einem Jahr gelang der Muslimin mit ihren drei Kindern die Flucht nach Berlin. Familie H. Stammt aus dem Sandschak, einer einst mehrheitlich von Muslimen bewohnten Region Serbiens. Als Besitzerin eines serbischen Passes gehört sie nun zu der Gruppe derer, die nach der neuen Weisung des Berliner Innensenats keine weitere Duldung mehr erhalten. Vor einer Woche haben Emina H. und ihre Kinder die Aufforderung zur Ausreise bekommen.
„Jeder einzelne Fall wird sorgfältig geprüft“, weist Innensenator Heckelmann die Kritik an seiner neuen Weisung zurück. Bei Emina H. wurde nichts überprüft – nicht, was es bedeutet, wenn sie als Muslimin in das „ethnisch gesäuberte“ Serbien zurückkehrt, nicht, wie man dort eine Frau behandelt, deren Mann auf bosnischer Seite kämpft. Was allein zählte, war ihr serbischer Paß.
Auch bei Janina N. wurde nichts geprüft. Die Frau war aus Sarajevo zu Verwandten nach Sandschak geflohen. Als sie auch von dort fliehen mußte, brauchte sie einen Paß und bekam einen serbischen. Für die deutschen Behörden ist die Bosnierin deshalb Serbin und bekommt keine weitere Duldung mehr. Wohin sie ausreisen soll? Als Bosnierin nach Serbien? Mit serbischem Paß ins umkämpfte Sarajevo? Die Zeit in der Schlange bei der Ausländerbehörde reichte nicht einmal aus, um auch nur diese Frage stellen zu können.
Tatsächlich findet die zugesagte Einzelfallprüfung der Abschiebehindernisse nicht statt. Denn die für die Kriegsflüchtlinge zuständige Ausländerbehörde steht ohnehin schon vor dem räumlichen und personellen Kollaps. Täglich müssen Antragsteller weggeschickt werden, weil nicht einmal mehr der Routinebetrieb bewältigt werden kann. Für Einzelfallprüfungen fehlt nicht nur die Zeit sondern auch das Wissen um die Zustände in den verschiedenen Landesteilen Jugoslawiens. Oft steht nur ein einziger, serbischer Dolmetscher bereit. Auch beim bestem Willen wäre unter diesen Umständen keine Prüfung möglich, auf welche Situation die Abgewiesenen bei einer Rückkehr in ihrer Heimat stoßen. Aber offenbar fehlt selbst der gute Wille. Man weist die Flüchtlinge nicht einmal auf die rechtliche Möglichkeit hin, persönliche, humanitäre und politische Abschiebehindernisse geltend zu machen.
Das amtlich Versäumte versuchen jetzt die überlasteten Beratungsstellen nachzuholen. Mit enormen Zeitaufwand werden Widersprüche und Eilanträge an die Gerichte geschrieben, um die drohende Abschiebung zu verhindern. Jeder Fall muß einzeln dargelegt und begründet werden. Eine Arbeit, die angesichts der großen Zahl der Betroffenen, nicht zu schaffen ist. Viele aber, so die Einschätzung der Beratungsstellen, werden nach Ablauf ihrer Duldungen zwar ausreisen – aber nicht in ihre Heimat, sondern in die Illegalität in Deutschland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen