■ Ein Jahr nach der Rostocker Katastrophe: Als die Bundesrepublik unterging
„Dieser Zweifel, ausgelöst durch den rassistischen Dammbruch und seine Begleiterscheinungen kam schockhaft... Er ergibt sich aus dem bisherigen Katechismus meines politischen Lebens. Danach betrachtete ich alles, was mit dem Erbe Hitlers, mit der Hypothek des staatlich institutionalisierten Nazionalsozialismus zusammenhing, also die gesamte historische Auseinandersetzung auf deutschem Boden, eingeschlossen die zweite Schuld, als ein historisches Rückzugsgefecht. Als das Rückzugsgefecht einer Macht, deren Höhepunkt in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gelegen hatte, (...) unfähig, die nationalen Geschicke wieder mitzubestimmen. Daraus entsprang die von mir wieder und wieder verkündete Zuversicht, daß, nach allem, eine Wiederkehr des Nationalsozialismus als politische Größe von effektiver Demokratiebedrohung, sei es auch in modern abgewandelter Form, nicht mehr möglich sei. Diese Zuversicht, die so ausdauernd in mir gelebt hat, droht mir abhanden zu kommen. Sie ist dabei, Auffassungen von einer nun wieder ungewissen Zukunft Platz zu machen. Ohne etwa an die Zwangsläufigkeit eines Vierten Reiches zu glauben – im Laufe des letzten Jahres mußte ich mir eingestehen: eine vermeintliche Gewißheit hatte sich als Illusion entpuppt.“
Mit dieser Beschreibung seiner persönlichen Situation hat Ralph Giordano in seinem gerade erschienenen Buch „Wird Deutschland wieder gefährlich?“ zwar erst einmal Auskunft über die Befindlichkeit eines Deutschen jüdischer Herkunft gegeben, doch der Schock, von dem er spricht, geht weit über die Gruppe unmittelbar rassistisch bedrohter Menschen hinaus. „Im Laufe des letzten Jahres“ sind viele Gewißheiten zerstört worden – vor allem solche, die auch während der heftigsten politischen Auseinandersetzung der alten BRD nie ernstlich in Frage standen. Als vor einem Jahr in Rostock-Lichtenhagen die Flammen hochschlugen und die Polizei untätig zusah, wie ein entfesselter Mob drauf und dran war, vietnamesische Familien, den Ausländerbeauftragten der Stadt und ein ZDF- Kamerateam, das sich ebenfalls in dem Wohnheim aufhielt, bei lebendigem Leib zu verbrennen, war klar, daß die alte Bundesrepublik tatsächlich nicht mehr existierte. Was sich so scheinbar banal anhört, war der eigentliche Schock für die westdeutsche Nachkriegsgeneration. In den Flammen von Rostock verbrannten die Gewißheiten von Nachkriegs-Westdeutschland. Für die in der Bundesrepublik groß gewordene und politisch sozialisierte Generation war politische Stabilität so selbstverständlich wie der Ablauf der Jahreszeiten. Was immer über die drohende Entwicklung zum Polizei- oder Atomstaat in den siebziger und achtziger Jahren geschrieben oder diskutiert wurde – auch die Linke hat im Grunde ihres Herzens der eigenen Propaganda nicht wirklich geglaubt und bis auf wenige Ausnahmen den nach westlichen Demokratiemodellen geprägten Verfassungsstaat immer an seinen eigenen Ansprüchen gemessen.
Mit anderen Worten: Für die westdeutsche Nachkriegsgeneration war das demokratische System westlicher Prägung genauso selbstverständlich wie für ihre englischen und amerikanischen Altersgefährten. Dabei waren Wahrnehmung und Wirklichkeit auf einer bestimmten Ebene durchaus im Einklang. Im europäischen, im westeuropäischen Vergleich, gab es kaum ein so stabiles Land wie die BRD. Die Regierungen, die DM, die jährlichen Zuwachsraten zum Bruttosozialprodukt – es war einfach alles stabil. An diesem Empfinden änderte auch der Fall der Mauer zunächst nichts. Wo für die in der DDR aufgewachsene Nachkriegsgeneration eine Welt unterging, erlebte der Westdeutsche derselben Generation zunächst nicht mehr als ein neues touristisches Naherholungsgebiet. Zwar wurde über Kohls Metapher von den „blühenden Landschaften“ herzhaft gelacht, doch der intellektuelle Widerspruch entsprach nicht dem Lebensgefühl und hatte auch keine praktischen Konsequenzen. Niemand in der alten BRD war bereit oder willens, sein Leben auf eine neue Situation umzustellen. Mehr oder weniger deutlich hieß die Parole: Wir gehen ein paar Jahre auf Tauchstation um dann wieder da anzuknüpfen, wo man beim Mauerfall aufgehört hatte. Zwar war klar, daß die Prioritätenliste auf der politischen Agenda sich verändern und die Debatten der Bundesrepublik für einige Zeit zurückdrängen würde, doch hofften die meisten auf eine Art temporären Aussetzer. Wenn erst einmal die dringendsten Bedürfnisse im Osten befriedigt wären, die Angleichung der Lebensverhältnisse in drei, vier Jahren erfolgt sei, dann wäre wieder der Raum, um über den weiteren ökologischen Umbau zu diskutieren, die Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben und die rechtliche Absicherung der Immigranten in Deutschland durchzusetzen. Die zaghaften Ansätze eines neuen demokratischen Impulses in der ehemaligen DDR wurden durch die Art der Vereinigung niedergemacht. Das wurde zwar von manchen im Westen bedauert, doch eine gesamtdeutsche Demokratiebewegung, die den Runden Tisch zu einer neuen politischen Institution gemacht hätte, scheiterte an den Aversionen im Westen und dem Kaufrausch im Osten. Eine Entwicklung, die aber im Westen zunächst nicht als Bedrohung der eigenen, so stabilen Republik begriffen wurde. Dazu bedurfte es der letzten Augustwoche 1992.
Nach der Ouvertüre von Hoyerswerda kam der Schock von Rostock. Eigentlich ein Doppelschock: zum einen die gelebte Erfahrung, wozu ein entfesseltes Kleinbürgertum in der Lage ist. Es ist eben doch etwas anderes, den Mob in Aktion zu erleben, als sozialpsychologische Abhandlungen über die Gewalt der Masse zur Kenntnis zu nehmen. Zum anderen aber der wahrscheinlich noch größere Schock über die Abwesenheit des Staates – mit anzusehen, wie diese Kleinbürger, Jugendliche und ihre neofaschistischen Soufleure, es fertigbrachten, daß der Staat, der sich seit der Lorenz-Entführung immer dadurch ausgezeichnet hatte, Herausforderungen mit möglichst großer Härte zu begegnen, samt seinem Gewaltmonopol urplötzlich von der Bildfläche verschwand.
Erst in diesem Augenblick war klar, daß die Bundesrepublik nicht mehr existierte, daß dieses neue Deutschland ein anderes Land ist. Nun haben die wenigsten Deutschen, die nach 1945 in der BRD und nun im neuen Deutschland leben, ähnliche Erfahrungen wie Ralph Giordano. Andere, ganz nüchtern formulierende Zeitgenossen wie Claus Leggewie sehen in Rostock „einen Sündenfall der Republik, ein Lehrstück für den Druck von Rechts“. Denn wenn auch nicht jeder wie Giordano nach Rostock „die Wiederkehr des Nationalsozialismus als politische Größe von effektiver Demokratiebedrohung“ gleichermaßen für gegeben halten wird, die Stabilität der Bundesrepublik wurde nicht durch ein freiheitliches Aufbegehren demontiert, sondern durch das Zurückweichen vor dem Terror gegen die Wehrlosesten in der Gesellschaft. Der Staatsapparat der Bundesrepublik, wiewohl immer parteiisch, hatte doch zumindest erfolgreich den Eindruck vermittelt, die körperliche Integrität aller zu schützen. Private Lynchjustiz, welcher politischen Couleur auch immer, wurde nicht geduldet. Der Verlust dieser Gewißheit, der Gestank der Kumpanei von Rostock- Lichtenhagen bis in die Sitzung des Bundestages zur „Neufassung des Asylrechts“, begleitete den Untergang der Bundesrepublik.
Nach Rostock, wo der damalige Innenminister Kupfer sich noch hinstellen konnte mit der Bemerkung: es sei ja niemandem etwas passiert, sind acht Menschen in Mölln und Solingen Opfer rassistischer Anschläge geworden, hat der Staatsapparat des neuen Deutschlands wenig dazu getan, die Zweifel von Rostock auszuräumen. Ein Jahr danach steht fest: der Status quo ante ist nicht mehr zu haben.
Stark vergröbert zeigen sich drei Verhaltens- und Argumentationslinien, damit umzugehen. Eine Mischung aus Ignoranz und Chuzpe, die den Verlust der körperlichen Integrität bestimmter Gruppen der Gesellschaft zur neuen Normalität erklärt. Gegen den „Alarmismus“ der Linken wird kühl erklärt, daß die kleine „ethnische Säuberung“ im Europa von heute nicht immer zu verhindern sei. Multikulti ist eben nicht drin.
Dagegen steht die Parole von 1993 gleich 1933. Die Geschichte wiederholt sich, nach dem Verlust der BRD-Stabilität sei Deutschland wieder in Weimar gelandet. Die zeitgeisttypische Übersetzung dieser Parole ist, alle Deutsche seien Rassisten. Das Ergebnis ist unter dem Strich mit der ersten Variante identisch: Multikulti ist eben nicht drin.
Doch noch ist aus dem Untergang der BRD keine neue politische Formation entstanden. Das neue Deutschland ist innen- und außenpolitisch in voller Bewegung. Neben dem Zynismus der einen und dem Fatalismus der anderen gibt es im Unterschied zu Weimar in beiden Teilen des vereinigten Deutschlands die große Gruppe derjenigen, die eine zivile Gesellschaft wollen. Die Kerzenträger des vergangenen Winters sind nach den Maßstäben des Parteienstaates demoskopisch schwer ermittelbar. Doch die Möglichkeit, daß aus den Zweifeln von Rostock ein produktiver Schub für eine neue Bürgerrechtsbewegung entsteht, ist durchaus vorhanden. Ein Ziel dieser Bürgerrechtsbewegung wäre, zu zeigen, daß eine zukünftige humane Gesellschaft in Europa eben nur als multikulturelle Gesellschaft funktioniert. Jürgen Gottschlich
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