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„Ein Slowake ist auch ein Ungar“

Während die ungarische Minderheit in der Slowakei mit Straßenblockaden für zweisprachige Ortsschilder kämpft, sehen sich die Slowaken in Ungarn als Ungarn, „die ihre Vergangenheit verleugnen“  ■ Von Keno Verseck

Zur Mittagszeit liegt das Dorf Marcelová wie ausgestorben da. Die Läden an den gepflegten, großzügigen Häusern sind halb heruntergezogen. Apfelbäume in den Vorgärten lassen ihre schweren Zweige herabhängen. Nachbarn schwatzen gemächlich über die Zäune hinweg und schauen allem hinterher, was sich bewegt. Unter den Weiden am Dorftümpel schlafen Bauarbeiter, Hunde bellen in der Ferne.

Der Tuchstreifen, der quer über der Dorfstraße hängt, ist leicht zu übersehen. Es steht darauf geschrieben: „Protest – Tiltakozás – Einspruch!“ Die slowakische Polizei, die von außerhalb geschickt wurde, hat die ungarischen Dorfbewohner, die die Straße blockiert haben, vom Ortseingang verjagt. Aber sie sind noch einmal wiedergekommen und haben zwei weiße Ortsschilder aufgestellt. In das Weiß ist ein schwarzes Fragezeichen gemalt.

Die drei Ungarn im Büro der Genossenschaftsbaracke gleich neben dem Ortseingang waren zu Hause gerade aufgestanden, als vor gut drei Wochen um 6 Uhr früh die beiden zweisprachigen Ortsschilder abmontiert und durch einsprachige ersetzt wurden. An der Ausfahrtstraße in Richtung der Grenzstadt Komárno steht jetzt „Marcelová“ statt „Marcelová- Marcelháza“. Im Radio hat es geheißen, Touristen und Lkw-Fahrer würde der slowakisch-ungarische Doppelname verwirren.

Doch seltsamerweise sind die zweisprachigen Schilder an den anderen Ausfahrtsstraßen nicht entfernt worden. Und auch sonst scheint niemand Anstoß an den allgegenwärtigen ungarisch-slowakischen Geschäfts- und Straßenaufschriften genommen zu haben.

Die drei Ungarn packt eine merkwürdig kalte Wut, wenn sie über den Staat reden, in dem sie leben. „Mitten im kalten Winter 46 war es“, erinnert sich der eine haßerfüllt an die Aktion, in der die tschechoslowakische Regierung einen Teil der ungarischen Bevölkerung des Landes umsiedelte. „Sie kamen morgens um halb acht, wir waren sieben Kinder, mein Vater schwer krank. Aber da galt nichts mehr, wir hatten eine halbe Stunde Zeit, unsere Sachen zu packen, dann luden sie uns in Viehwaggons. Wir kamen in die Nähe von Prag. Drei Jahre später konnten wir zurück, da hatten sich die Slowaken schon unseren Hof genommen. So. Und jetzt wollen sie auch noch, daß wir unsere Sprache vergessen?“

Der dicke junge Mann pflichtet ihm bei. „Schau dir mal die Schulbücher an, die sind doch alle von Leuten ungarischer Abstammung geschrieben. Die Slowaken können ja kaum lesen. Wir wollen hier Autonomie, mindestens kulturelle. Dann lernen wir Englisch und Deutsch, das sind wenigstens nützliche Sprachen. Und die Angelegenheit mit den Slowaken regeln wir dann in englisch.“

Die Empörung unter vielen der 600.000 Ungarn, die in der Südslowakei leben, ist groß, seit das staatliche Straßeninstandhaltungswerk in Dörfern und Städten der Region mit der Demontage der zweisprachigen Ortsschilder begonnen hat. Auf wessen Befehl das geschah, ist unbekannt. Aber für die Ungarn ist klar, daß wieder einmal eine Offensive gegen ihre Rechte geführt werden soll. Die Slowakei, sagen viele, habe den Europarat, der das Land gerade in seine Reihen aufgenommen hat, betrogen. Statt die Minderheitengesetze und ihre Umsetzung zu verbessern, wie der Rat von der Slowakei verlangt, geschehe nun genau das Gegenteil.

Marcelová-Marcelháza ist berühmt geworden. Das Dorf liegt nur wenige Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt; von 3.800 Bewohnern sind kaum mehr als 300 Slowaken. Der ungarische Bürgermeister László Gál Soóky sagt, die Schilderdemontage sei eine „Verletzung der gesamten slowakischen Ungarnschaft“. Soóky entschied in Eigenregie, daß die Ausfahrtsstraße symbolisch blockiert, das Recht wiederhergestellt werden müßte. „Ich will“, behauptet er allen Ernstes, „keine politische Angelegenheit aus der Sache machen.“

Aber mit Sicherheit weiß Soóky, daß er die Diskussionen um die Ortsschilder mit der Blockade vom 12. und 13.August zugespitzt hat. Ungarische Medien verfolgen das Thema mit Argusaugen, das Parlament in Bratislava streitet über eine mögliche Sondersitzung. Doch ob mit oder ohne zweisprachige Ortsschilder – vergessen müssen die Ungarn in Marcelová ihre Sprache nicht. Die meisten slowakischen Magyaren hatten und haben von jeher die Möglichkeit, ungarische Schulen zu besuchen. Regelmäßig erscheinen zwei Dutzend ungarische Publikationen. Die Namen in den Ausweisen sind nicht slowakisiert worden. In den größeren Städten der Südslowakei amtieren – für die ungarische Minderheit in Rumänien unvorstellbar – ungarische Bürgermeister.

Manche Ungarn im Dorf interessiert die Schilderaffäre denn auch nicht übermäßig. Ein paar Arbeiter, die auf einer Baustelle herumsitzen, meinen, in Marcelová „tun die Ungarn den Slowaken nicht weh und die Slowaken den Ungarn nicht.“ – „Da oben rühren sie die Scheiße ein“, regt sich einer auf. „Mit der Aktion wollen sie das Volk betrügen und gegeneinander aufhetzen.“

Der slowakische Gemeinderat Peter Židek, der perfekt ungarisch spricht, ist verunsichert. Es gefällt ihm nicht, wie er sagt, daß die zweisprachigen Schilder abmontiert wurden. Doch Soóky habe mit der Blockade viel Wirbel veranstaltet. „Es gibt Extremisten auf beiden Seiten, harte Slowaken und harte Ungarn.“ Daß die Ungarn eine Autonomie in der Südslowakei fordern, versteht er nicht. „Warum“, fragt er, „muß man schon wieder etwas aufteilen? Das gab's doch gerade eben. Die Ehe mit den Tschechen war zwar nicht perfekt, aber man hätte sich ja nicht gleich scheiden lassen müssen.“

* * *

In einer Kneipe an der Hauptstraße von Pilisszentkereszt sitzen Slowaken und unterhalten sich entrüstet über die Demontage der Ortsschilder in der Slowakei. Sie unterhalten sich auf ungarisch. Das sprechen sie besser als slowakisch. Solche Konflikte, sagen sie, gibt es bei uns in Ungarn Gott sei Dank nicht. „Vor dem Krieg“, meint ein Alter gelassen, „war es verboten, slowakisch zu sprechen. Aber danach kam alles in Ordnung.“

Die Ungarin am Tresen äußert sich lobend über die Slowaken: „Oh, diese Leute, die sind so ordentlich, eigentlich merkt hier niemand den Unterschied zwischen Slowaken und Ungarn. Wir leben hier ganz friedlich zusammen. Und so war es, solange ich mich zurückerinnern kann.“

Von Marcelová sind es nach Pilisszentkereszt 50 Kilometer Luftlinie. Dazwischen liegt die ungarisch-slowakische Grenze. In das kleine Dorf in den Budaer Bergen fährt der Bus von Budapest eine halbe Stunde. Kaum etwas weist darauf hin, daß hier von 1.900 Einwohnern mehr als 1.500 Slowaken sind. Am Ortseingang hängt unter dem großen, weißen Schild mit dem ungarischen Namen ein kleines grünes Schild: Mlynky. Aber viele Straßentafeln und Geschäftsaufschriften sind, anders als 50 Kilometer nordwestlich, nur einsprachig – in ungarisch.

Zum Beispiel bei der Besitzerin des Obst- und Gemüseladens. Sie ist Slowakin. Ihre Eltern waren Slowaken und deren Eltern auch. An den Bevölkerungsaustausch von 1947 zwischen Ungarn und der Slowakei, bei dem Zehntausende Angehörige der jeweiligen Minderheit in ihr Mutterland geschickt wurden, erinnert sie sich nicht. Aber sie hat davon gehört. „Wir leben hier so friedlich zusammen“, sagt sie, „alles ist zweisprachig.“

Die Mitteilungen, die im Bürgermeisteramt aushängen, sind alle in ungarisch verfaßt. Auch die im Schaukasten vor dem örtlichen Kulturhaus. Auf den Sitzungen des Gemeinderates wird – anders als 50 Kilometer weiter – ausschließlich ungarisch gesprochen. Denn der Bürgermeister des Ortes, Pál Telek, kann kein slowakisch. „So etwas wie mit den ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern“, sagt Pál Telek, „gibt es hier nicht und hat es auch nie gegeben. In einem Dorf wie unserem kann es einfach nicht sein, daß eine Nationalität ausgegrenzt wird.“

Die Gräber auf dem Friedhof von Pilisszentkereszt sind stumme Zeugen. Mit Beginn der zwanziger, dreißiger Jahre wechseln viele Namen auf den Grabsteinen plötzlich ins Ungarische. Obwohl Ungarn im Dorf nie in der Mehrheit waren. Gregor Papuček, ein slowakischer Dichter aus dem Ort, erinnert sich an die Erzählungen seiner Mutter. „Der Direktor Bartha ohrfeigte die Kinder, wenn er sie in der Pause dabei erwischte, daß sie slowakisch sprachen. Und im Unterricht mußten die Kinder beten: ,Ich bin Ungar, ich bin Ungar, als Ungar geboren!‘“

In Gregor Papučeks Ausweis steht als Vorname „Gergély“, die ungarische Version von Gregor. Dreimal hat die Polizei sein Gesuch, den wirklichen Vornamen eintragen zu lassen, abgewiesen. Fast vier Jahre, nachdem die Kommunisten ihr Machtmonopol in Ungarn aufgaben, ist nun ein Minderheitengesetz verabschiedet worden, das die Rückänderung der Namen gestattet.

Während der kommunistischen Zeit wurden erstmals Schulen mit Sprachunterricht für die Minderheiten eingerichtet. Doch es gibt in ganz Ungarn keine Schule – wie für die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern –, in denen der gesamte Unterricht in der Sprache der Minderheit stattfindet. „Die Kinder“, sagte eine Slowakin in Pilisszentkereszt, „müssen zwar slowakisch lernen, aber sie wollen es nicht sprechen. Es ist für sie eine fremde Sprache.“ Die einzige Zeitung der Slowaken in Ungarn, L'udové noviny, hat eine Auflage von 1.600 Exemplaren.

Der Bürgermeister des Dorfes Pilisszántó, slowakisch Santov, drei Kilometer von Pilisszentkereszt entfernt, heißt József Szönyi. Seine Eltern, die Slowaken waren, trugen den Familiennamen Szrpek. „Ich bin ein Ungar“, sagt Szönyi, „der seine Vergangenheit verleugnet. Meine Vorfahren kommen aus der Slowakei, das ist eine Tatsache. Als ungarischer Mensch bin ich Ungar, aber ich verleugne meine slowakische Abstammung nicht.“ Der Bürgermeister des idyllischen Dörfchens sagt, „hier ist keiner gegen irgendeinen, hier stehen alle beieinander“.

Szönyi zieht einen Stempel aus der Schublade, stempelt geräuschvoll ein offizielles Papier ab. Der Stempel trägt den slowakisch-ungarischen Doppelnamen des Dorfes. „Das ist der Beweis. Niemand hat etwas gegen die Zweisprachigkeit, sogar die Minister nicht.“

Das neue ungarische Minderheitengesetz garantiert theoretisch nur-muttersprachliche Bildungsmöglichkeiten. Doch die Regierung kann sich mit einem Schulterzucken auf die Tatsache berufen, daß niemand diese Möglichkeit in Anspruch nimmt. Das Gesetz wurde verabschiedet, nachdem die Geschichte entschieden hat. „Wir spüren keinerlei Druck“, sagt Szönyi. „Ich habe unter den ungarischen Serben und Schwaben gute Freunde. Aber alle diese Nationalitäten sind nicht nur Serben, Slowaken oder Schwaben, sondern auch Ungarn. Das Ungar-Sein schmiedet uns zusammen.“

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