■ Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel zu den wirtschaftspolitischen Perspektiven in Deutschland: Düstere Aussichten für Arbeitslose
taz: Herr Hickel, es gibt in Deutschland etwa fünf Millionen Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen. Bundeswirtschaftsminister Rexrodt macht für die Misere vor allem die hohen Lohnkosten verantwortlich. Ist die Arbeit in Deutschland zu teuer?
Rudolf Hickel: In dieser Schärfe ist die These von der zu teuren Arbeit falsch. Die Bundesrepublik war immer schon ein Hochlohnland. Entscheidend ist, daß diese hohen Löhne durch hohe Effizienz und hohe Produktivität in der Wirtschaft auch finanzierbar waren. Von 1982 bis 1992 hat diese Wirtschaft bei vernünftiger Lohnentwicklung erheblich geboomt. Es kann doch nicht angehen, daß sich dieses quasi über Nacht alles verändert haben soll. Ich glaube, daß die Ursachen der Krise ganz woanders liegen. In Westdeutschland sind in den letzten Jahren die Exporte im Prinzip abgebrochen ...
... wegen der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit ...
... nein, in erster Linie wegen des Erschlaffens der Weltkonjunktur. Die Wettbewerbsbedingungen haben sich natürlich durch den Fall der Mauer erheblich verändert. Die osteuropäische Niedriglohnland-Konkurrenz liegt nun praktisch direkt vor der Tür, aber wir sind gut beraten, jetzt nicht dem Lohnsenkungsdruck nachzugeben. Im Gegenteil, wir müssen den Mut haben, zu sagen, daß arbeitsintensive Produktion dort zu geschehen hat, wo die Arbeitskosten gering sind. Das muß nicht in Deutschland gemacht werden.
Viele Arbeitslose in Deutschland sind minderqualifiziert. Aus diesem Grund fordert z.B. der Präsident des nordrhein-westfälischen Landesarbeitsamtes, man müsse in Billiglohnländer abgewanderte Produktionsstätten durch Zulassung eines zweiten, minder entlohnten Arbeitsmarktes nach Deutschland zurückholen.
Die These von den minderqualifizierten Arbeitslosen ist etwas voreilig, denn die Arbeitslosenstatistik zeigt, daß inzwischen der Anteil derer, die qualifiziert sind, unter den Arbeitslosen zugenommen hat. Dennoch gibt es als Folge der Dauerarbeitslosigkeit eine relevante Gruppe von Arbeitslosen, die in den regulierten Arbeitsmarkt nicht reintegrierbar sind. Ich bin deshalb auch ein ganz entschiedener Verfechter eines zweiten Arbeitsmarkts. Aber nicht, um Billiglohnproduktionen zurückzuholen, sondern um Arbeitslose, die im ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben, mit der Durchführung von gesellschaftlich notwendigen Arbeiten zu betreuen, die dann auch von der Gesamtgesellschaft finanziert werden müssen. Man darf einfach nicht zulassen, daß die Arbeitslosigkeit nur über den Mechanismus der Profitwirtschaft geregelt werden soll. Den zweiten Arbeitsmarkt quasi als Mittel einsetzen zu wollen, um abgewanderte Billigproduktionen wieder zurückzuholen, halte ich für strukturpolitisch völlig abenteuerlich. Wenn andere Länder billiger produzieren können, dann sollen sie das auch tun, denn die brauchen doch auch diese Produktion. Die Bundesrepublik muß sich auf die Herstellung von intelligenten, technologisch und ökologisch anspruchsvollen Produkten konzentrieren. Wenn wir die Massenarbeitslosigkeit wesentlich verringern wollen, müssen aber noch weitere Maßnahmen hinzukommen, zum Beispiel eine Arbeitszeitverkürzung.
Auch da tut sich nicht viel. Bundeskanzler Kohl will die individuelle Arbeitszeit sogar verlängern und die Gewerkschaften werben für diesen Weg auch nur noch sehr verhalten.
Wer im Angesicht von unterausgelasteten Kapazitäten und technologisch bedingtem Arbeitsplatzabbau von Arbeitszeitverlängerung spricht, hat die Zeichen der Zeit nicht begriffen. Nein, wir müssen den Weg weiterer Arbeitszeitverkürzungen gehen, dabei aber zwei Bedingungen beachten. Erstens gehören dazu vernünftige Modelle der Arbeitszeitflexibilisierung ...
Heißt das, daß die individuelle Arbeitszeitverkürzung mit einer Verlängerung der Maschinenlaufzeiten einhergehen muß?
Es geht um eine optimale Abstimmung der Maschinenzeiten mit der menschlichen Arbeit. Das kann durchaus zu einem Mehr an Zeitsouveränität für Arbeitnehmer führen. Man muß zweitens die zur Verteilung anstehende Summe bei den Tarifverhandlungen in eine Lohnerhöhungs- und Arbeitszeitverkürzungs-Komponente aufteilen.
Ist das ein Plädoyer für eine kostenneutrale Arbeitszeitverkürzung?
Nein, so kann man es nicht sagen. Ich bin dafür, daß man die Arbeitszeitverkürzung im Rahmen des Gesamtspielraumes der Tariflohnerhöhung verhandelt.
Sind Konjunkturprogramme ein probates Mittel gegen die Krise?
Bei der Rezession in Westdeutschland handelt es sich um eine eindeutige Nachfragekrise. In einer solchen Situation wäre ein Konjunkturprogramm angemessen, wenn drei Bedingungen erfüllt würden. Ein solches Programm müßte erstens EG-weit aufgelegt werden. Zweitens müssen die Ausgabenprogramme auf ganz wichtige, defizitäre Felder, zum Beispiel zur ökologischen Sanierung beschränkt werden. Weil wir mit der Staatsverschuldung das Ende der Fahnenstange erreicht haben, muß deshalb drittens per Gesetz sichergestellt werden, daß die Defizitfinanzierung eines Konjunkturprogrammes nach einer Konjunkturerholung wieder abgebaut wird.
Die Bundesregierung macht ja zur Zeit das Gegenteil, sie kappt Sozialausgaben, um die Neuverschuldung zu begrenzen.
Die Eingriffe in das Sozialsystem sind nicht nur verteilungspolitisch, sondern auch konjunkturell eine Katastrophe. Sie verstärken die Rezession. Man muß diese Art der Konsolidierungspolitik auf jeden Fall verschieben, weil der Staat sich sonst Einnahmeausfälle einhandelt, die höher ausfallen als die Einsparungen. Sozialsysteme haben die Funktion, den Leuten dann zu helfen, wenn es konjunkturell runter geht und damit auch die Nachfrage zu stabilisieren. Dieser gesamtwirtschaftliche Mechanismus hat nichts von seiner Bedeutung verloren.
Glauben Sie, daß durch eine politische Umsetzung ihrer Vorstellungen die Vollbeschäftigung wieder herstellbar wäre?
So bitter es klingt, aber Vollbeschäftigung wäre damit auch nicht zu erreichen, sondern man könnte mit dem gesamten Paket die Arbeitslosigkeit vielleicht um eine Million nach unten drücken. Ein Instrumentarium zur Erreichung von Vollbeschäftigung gibt es nicht. Interview: Walter Jakobs
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