: Die Jungfrau erscheint als Plastikflasche Von Ralf Sotscheck
Es wurde auch Zeit, daß die Jungfrau Maria mal wieder etwas von sich hören ließ. Seit ihrem letzten Besuch in Irland — im Sommer 1986 beobachteten Hunderte von Menschen, wie sich plötzlich die Marienstatuen im ganzen Land bewegten — hat ein rapider Moralverfall die Grüne Insel heimgesucht: Verhütungsmittel und Homosexualität sind inzwischen legalisiert, sogar das Recht auf Ehescheidung soll im nächsten Jahr folgen, und selbst das Abtreibungsverbot ist nicht mehr so unerschütterlich, wie die katholische Hierarchie es gerne hätte. Ein himmlisches Zeichen war daher überfällig, um die IrInnen schließlich auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.
Der göttliche Wink kam ganz in der Nähe der Stelle, wo sich vor sieben Jahren die erste Statue bewegte. Diesmal erschien die Jungfrau persönlich. Die 18jährige Fiona Bowen, die einer missionarischen Betbande angehört, erspähte sie vor gut zwei Wochen in einer Grotte bei Inchigeelagh im Westen der Grafschaft Cork. Maria war neben ihrer eigenen blau-weißen Statue aufgetaucht und befahl der jungen Irin, möglichst viele Leute zu einer Nachtwache an der Grotte zusammenzutrommeln. Mit Rücksicht auf die arbeitende Bevölkerung legte Maria dafür den Samstag fest. Das Ereignis sprach sich in katholischen Kreisen wie ein Lauffeuer herum.
Als erste trafen die fahrenden Devotionalienhändler ein und bauten ihre Stände mit Plastikflaschen in Marienform für Heiliges Wasser, mit vergoldeten Padre-Pio-Medaillons, Papstpostkarten und anderen Geschmacklosigkeiten auf. Bei Dämmerung hatten sich etwa 1.500 Gläubige, die mit Autos und Reisebussen aus allen Landesteilen angereist waren, an der Grotte versammelt. Zwar hatte der Bischof von Cork das Marienspektakel verteufelt, weil das Copyright für Wunder nun mal bei der katholischen Kirche liegt, doch zwei seiner Statthalter vor Ort ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen. Einer der beiden Pfaffen hatte den gefalteten Händen der Jungfrau Handschellen angelegt, die sich bei näherer Betrachtung jedoch als Rosenkranz entpuppten. Sein Kollege schwang sich mit Hilfe eines hastig im Kofferraum seines Autos installierten Lautsprechersystems zum Vorbeter der wartenden Gemeinde auf.
Zunächst geschah jedoch absolut gar nichts. Damit es überhaupt irgend etwas zu fotografieren gab, hatte jemand eine tragbare Marienstatue ins benachbarte Feld geschleppt, wo sich die Leute wenigstens mit der Plastiknachbildung ablichten lassen konnten. Die echte Maria ließ weiterhin auf sich warten. Nach drei Stunden schnappte sich Fiona Bowen aus heiterem Himmel das Mikrophon und erklärte der verblüfften Gemeinde, daß ihr soeben nicht nur Maria, sondern auch noch Jesus erschienen wäre: „Eine Träne lief aus seinem Auge, und er dankte euch dafür, daß Ihr gekommen seid.“ Ihre Freundin bedauerte, daß nicht alle die Jungfrau und ihren Sohn sehen konnten. „Aber wir alle sind gesegnet“, versicherte sie — selbst die Rosenblüten in der Grotte, von denen sich jeder eine mitnehmen durfte. Im übrigen hätte die Jungfrau angeordnet, daß die Menschheit beten solle, was das Zeug hält. Bowen versprach, weiterhin auf Empfang zu bleiben. Schließlich habe sie schon seit sechs Jahren Halluzinationen. Oder sagte sie etwa „Visionen“?
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