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Menschenmaterial für Zagrebs Armee

Die wenigsten Kroaten wissen, daß Verweigerung möglich ist / Ehemalige Wehrdienstleistende der jugoslawischen Armee müssen dienen  ■ Aus Zagreb Thomas Heymann und Jana Meyer

Theoretisch zumindest kann sich jeder kroatische Wehrpflichtige, der den Dienst mit der Waffe verweigern will, auf die Verfassung seines Landes berufen: „Verweigerung aus Gewissensgründen soll all jenen erlaubt werden, die aus religiösen oder moralischen Motiven nicht willig sind, an der Ausübung militärischer Pflichten in den Streitkräften teilzunehmen“, steht dort im Artikel 47. Und weiter: „Solche Personen sollen zu einem gesetzlich geregelten Ersatzdienst verpflichtet werden.“

In der Praxis jedoch dürfen sich die Rekruten nach dem ergänzenden Verteidigungsgesetz nur bei der ersten Wehrerfassung auf dieses Recht berufen, wie Srdjan Dvornik von der kroatischen „Anti Ratna Kampanija“ (Anti- Kriegs-Kampagne, ARK) in Zagreb bestätigt. Reservisten, die im ehemaligen jugoslawischen Militär ihren Wehrdienst ableisteten, dürfen gar überhaupt nicht verweigern – vermutlich der einzige Punkt, in dem sich die „Kroatische Armee“ (HV) als Rechtsnachfolgerin der „Jugoslawischen Volksarmee“ (JNA) gibt. Nur von Dezember 1991 bis März 1992 galt Artikel 47 auch für Soldaten der Ex- Bundesarmee. Dann schaffte die Republik Kroatien das Recht für ehemalige JNA-Wehrdienstleistende mit der Begründung ab, diese hätten ja auch im alten Jugoslawien nicht verweigert. Vergessen wird dabei, daß Kriegsdienstverweigerung zu Zeiten des Sozialismus mit Gefängnisstrafen geahndet wurde.

Nach Ablauf der „Drei-Monats- Frist“ forderte die Anti-Kriegs- Kampagne bei einem Gespräch mit dem Verteidigungsministerium vor kurzem deren Verlängerung, also die uneingeschränkte Gültigkeit des Gesetzes für alle Wehrpflichtigen – vor, während und nach deren Armeezeit. Bisher jedoch hat das Verteidigungsministerium laut Dvornik die entsprechende Gesetzesnovelle zwar versprochen, aber nicht verabschiedet. Der Anti-Kriegs-Aktivist rät den Reservisten, trotzdem ihre Gesuche an die zuständige Kommission im Justizministerium zu richten, um Druck auszuüben.

Einer der betroffenen ehemaligen JNA-Reservisten ist Ratko Dojčinović. Der Abgeordnete der oppositionellen „Sozialdemokratischen Union“ (SDU) in der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Karlovac schickte am 2. August 1993 seine Verweigerungserklärung ab. Aber weil der Oppositionspolitiker vor Jahren in der JNA gedient hatte, wurde er nicht von der Wehrpflicht befreit. Zum Militär ging Dojčinović trotzdem nicht. Nachdem er seine Einberufung erhalten hatte, behalf sich der Sozialdemokrat mit einer speziellen kroatischen Variante der Kriegsdienstverweigerung: Als der zuständige Beamte vor der Tür stand, um die für den Gestellungsbefehl zwingend notwendige Unterschrift des Rekruten unter den Marschbefehl zu holen, ließ er sich einfach von Familienmitgliedern verleugnen und tauchte anschließend für drei Tage unter. Erfahrungsgemäß wird man nach dieser Frist bis auf weiteres in Ruhe gelassen. Tatsächlich schienen die kroatischen Militärbehörden diese Art der „Verweigerung“ bisher gar in ihre Rekrutierungspraxis miteinzubeziehen. Nach Schätzungen der ARK stellt beispielsweise in Zagreb die Armee etwa 30 Prozent mehr Einberufungsbescheide aus, als sie Soldaten benötigt. Ratko Dojčinović aber wurde zwei Tage nach seinem Gestellungsbefehl verhaftet. Die Festnahme des Politikers, der eng mit ARK zusammenarbeitet, ist der erste Fall eines anscheinend neuen Vorgehens gegen Kriegsdienstverweigerer in Kroatien, der bekannt wurde.

Juristisch gesehen, konnte der verantwortliche Kommandeur schon seit der Unabhängigkeit 1992 beim „Nichtbefolgen des Einberufungsbefehls“ bis zu 15 Tage Haft ohne Gerichtsverfahren verhängen. Danach ist dreierlei denkbar: Entweder wird der Wehrunwillige wieder freigelassen, noch einmal einberufen – oder gleich in der Armee einbehalten. Dort müßte er regulären Kriegsdienst leisten. Weigert er sich auch dann, droht ihm ein Prozeß und bis zu einem Jahr Haft. Da im Falle Dočinović bisher sämtliche Versuche des Anwalts scheiterten, ihn zu befreien, versucht ARK nun, öffentlich Druck zu machen. Während der Kämpfe um die Brücke von Maslenica, die Nord und Südkroatien verbindet, und des Referendums der separatistischen kroatischen Serben in der Krajina fand die ARK-Aktion starke Resonanz. Viele Menschen, die sich im Zagreber Büro der ARK meldeten, hatten noch nie etwas von einem legalen Weg aus der Armee gehört.

Obwohl das Militär dazu verpflichtet ist, Soldaten über ihre Rechte aufzuklären, ist das in den Kasernen Kroatiens eher unüblich. Wie Vesna Janković, Chefredakteurin der ARK-Zeitschrift Arkzin berichtet, versuchen die Soldaten häufiger, sich mit Hilfe psychiatrischer und ärztlicher Atteste oder Flucht ins Ausland dem Kriegsdienst zu entziehen, als zu verweigern. Das kroatische Fernsehen berichtete vor kurzem von 20.000 Männern allein in Istrien, die sich derzeit in Italien aufhalten, um dem Wehrdienst zu entgehen. Diese „Verweigerung aus dem Bauch“, wie Dvornik die spontane Flucht nennt, ist die Regel, bewußtes Ausschöpfen der Rechte eher die Ausnahme. Daher ist es derzeit das vorrangige Ziel der ARK, Aufklärungsarbeit zu leisten. Doch da der Anti-Kriegs-Bewegung im seit über zwei Jahren kriegsgeschütteltem Kroatien eine breite Basis fehlt, blickt Dvornik düster in die nahe Zukunft. „In der jetzigen Situation besteht für die Heimat überhaupt keine Gefahr, genügend Menschenmaterial für die Armee zu bekommen.“

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