Rückzug aus erobertem Gebiet oder „Großarmenien“

■ Nachdem das Parlament Aserbaidschans die Berg-Karabach-Armenier als Verhandlungspartner anerkannt hat, wäre der Weg für eine politische Lösung frei

Die Auskünfte des stellvertretenden Verteidigungsministers waren eindeutig. „Wir haben kein Interesse an aserbaidschanischem Gebiet – militärische Vorstöße sind rein defensiv motiviert.“ Bei entsprechenden Garantien der internationalen Staatengemeinschaft oder aber Vereinbarungen mit Baku werde man sich selbstverständlich aus aserbaidschanischem Gebiet wieder zurückziehen.

Das Gespräch vor der Generalstabskarte der militärischen Führung von Berg-Karabach fand im Juni dieses Jahres statt. Wenige Wochen zuvor hatten die Truppen der armenischen Enklave die aserbaidschanische Stadt Kelbadschar erobert und dabei einen zweiten Korridor zwischen Berg-Karabach und dem armenischen Mutterland hergestellt. Die aserischen Einwohner Kelbadschars und der Dörfer in dem betroffenen Gebiet flüchteten in nördliche Richtung und landeten zumeist in der zweitgrößten aserbaidschanischen Stadt Gandschar, wo dann Mitte Juni der Putsch gegen den damaligen Präsidenten Abulfaz Eltschibej begann.

Mit der Eroberung Kelbadschars hatten die Armenier zwei Ziele erreicht: Das Aufmarschgebiet aserbaidschanischer Truppen für die Rückeroberung des nördlichen Teils von Berg-Karabach wurde besetzt und gleichzeitig ein Angriff auf den Latschin-Korridor – dem eigentlichen Verbindungsweg zwischen Armenien und Berg- Karabach – von Norden aus ausgeschlossen.

Bereits zeitgleich mit den Kämpfen in Kelbadschar war es erstmals auch zu armenischen Angriffen auf Fizuli gekommen. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß von Fizuli bis zur iranischen Grenze nur noch wenige Kilometer zu überwinden sind. Wer die Stadt beherrscht, kann dieses Schlupfloch fast nach Belieben schließen. Damit hätten die Karabach-Armenier dann nicht nur die gesamte Enklave Berg-Karabach unter ihre Kontrolle gebracht, sondern auch den Teil Aserbaidschans, der Berg-Karabach von Armenien trennt, besetzt.

Noch im Juni wies die militärische Führung der Karabach-Armenier den Vorwurf, sie sei genau auf diese Eroberung aus, weit von sich. Tatsächlich haben die Armenier den Putsch und Umsturz in Baku dazu genutzt, erst die aserbaidschanische Provinzhauptstadt Agdam zu erobern und dann im Süden vorzumarschieren. Letzte Woche fiel Fizuli, und erst als die Armenier schon an der iranischen Grenze standen, wurde ein labiler Waffenstillstand vereinbart.

In dem jetzt umkämpften Teil Aserbaidschans – vom Latschin- Korridor im Norden bis zu der Linie Fizuli-iranische Grenze im Süden – leben rund 250.000 Aseris. Rundum von armenischen Truppen eingeschlossen, flüchten sie in Richtung Iran.

Armenier in der Rolle des Aggressors

Bereits im Frühjahr hatte die Regierung in Teheran darauf hingewiesen, daß sie eine solche Entwicklung nicht tatenlos hinnehmen werde. Jetzt stehen ihre Truppen entlang der aserbaidschanisch-iranischen Grenze, um ein unkontrolliertes Eindringen der Flüchtlinge zu verhindern und vielleicht selbst in die Kämpfe einzugreifen.

Allen Verantwortlichen in Stepanakert und Jerewan war klar, daß eine Eroberung Fizulis massive Reaktionen des Iran, der Türkei und nicht zuletzt des UNO- Weltsicherheitsrates nach sich ziehen würde. Die Eroberung von mittlerweile fast einem Drittel des aserbaidschanischen Staatsgebiets kann von den Nachbarn nicht widerspruchslos hingenommen werden. Außerdem versetzt sie die Armenier, deren Anspruch selbst auf Berg-Karabach völkerrechtlich sehr umstritten ist, endgültig in die Rolle des Aggressors.

Die militärischen Siege der Armenier könnten so leicht zu politischen Niederlagen werden. Kommt es jetzt nicht schnell zu einem Waffenstillstand, der auch die Vertreibung der Aseris beendet, ist Iran mit Rücksicht auf die aserbaidschanische Bevölkerung innerhalb der eigenen Grenzen (rund 10 Millionen Aseris leben im Iran) wahrscheinlich gezwungen, aktiv einzugreifen – eine für die Armenier verheerende Perspektive.

Voraussetzung für eine zumindest vorübergehende Entschärfung des Konflikts sind direkte Gespräche zwischen der Regierung in Baku und der Führung der Karabach-Armenier. Der amtierende Präsident Gaidar Alijew gilt als Anhänger pragmatischer Lösungen, dem man solche Gespräche zutraut. Jeder weitere armenische militärische Erfolg wird allerdings seine Handlungsmöglichkeiten innenpolisch stark einschränken.

Das Parlament in Baku hat am letzten Wochenende erstmals direkten Gesprächen mit der armenischen Führung aus Berg-Karabach zugestimmt. Damit ist der Weg für politische Lösungen frei. Jetzt wird sich zeigen, ob die Armenier zum Rückzug aus den besetzten Gebieten bereit sind und aserbaidschanischen Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Dörfer in Berg-Karabach ermöglichen oder ob sie „Großarmenien“ durchsetzen wollen. Wie immer in ethnischen Konflikten, finden sich natürlich auch in Armenien genügend Leute, für die das jetzt eroberte aserbaidschanische Gebiet historisch armenische Erde ist. Und obwohl die Politiker in Jerewan und Stepanakert offiziell von der Vereinigung Armeniens und Berg-Karabachs längst abgekommen sind, bleibt dies langfristig doch das politische Ziel. Da wäre eine dauerhafte Besatzung der aserbaidschanischen Gebiete, die genau dazwischen liegen, natürlich ganz hilfreich. Jürgen Gottschlich