Querdenker oder Querulant?

Ernst Nolte, „der leibhaftige Böse“ des Historikerstreits von Anno 86, präsentiert ein neues Buch – „Streitpunkte“: Es enthält spannende Fragen, Zusammenfassungen zeitgeschichtlicher Kontroversen und neue Abstrusitäten  ■ Von Götz Aly

Ernst Nolte hält auf Tradition: Bevor sie gedruckt erschienen, trug er die Kapitel und Thesen seines neuen Buches öffentlich vor. Die Vorlesung, die der Siebzigjährige im letzten Wintersemester an der Freien Universität hielt, war gut besucht. Wer denn hingehe, fragte ich einen mir bekannten Studenten. „Ein harter, schon etwas ergrauter Kern, gewissermaßen der Nolte-Fanklub“, antwortete der, „dann Studenten, die einfach etwas anderes hören wollen, und jene, die schlichte Neugier treibt, die ,den Bösen‘ einmal ganz nah, sozusagen leibhaftig sehen wollen.“ Zu letzteren rechnete sich mein Gewährsmann. Von Art und Inhalt der Vorlesung zeigte er sich „beeindruckt“. Endlich sei da ein veritabler Professor, der einen großen Überblick gebe, fesselnd vortrage und – im Gegensatz zu diesem und jenem – kein bißchen zu Langeweile und Redundanz neige.

Nun liegt Noltes Vorlesung gedruckt vor, der Titel anspruchsvoll, leicht aufgeblasen: „Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus“. Es handelt sich – im ersten Teil, den „heutigen Kontroversen“ – um einen dezidierten, kenntnisreichen wie abwägenden Überblick zum Forschungsstand. Der Autor weiß, wovon er spricht, auch dann, wenn er dies auf gelegentlich höchst eigensinnige, vorzugsweise in Frageform gehüllte, manchmal schulmeisterliche Weise tut. Wo Nolte im Kapitel „Soziologie und Vielfalt des Nationalsozialismus“ die „große Banalität“ der üblichen Mittelschichts- alias Kleinbürgertheoreme zur Sozialstruktur der NSDAP vor 1933 beklagt, da ergibt sich für ihn eben die interessante Frage: „Weshalb eine solche Mittelklassepartei bis zu einem Drittel ihrer Mitglieder aus Arbeitern rekrutieren kann und ob sie dann nicht ,Volkspartei‘ genannt werden muß“?

Nolte referiert den Stoff nicht chronologisch, sondern gruppiert ihn, und das macht die Lektüre spannend, um zentrale Fragen – eben Streitpunkte: um die unterschiedlichen wissenschaftlichen Auffassungen zur Affinität, vorzugsweise Teilaffinität einzelner gesellschaftlicher Gruppen zum Nationalsozialismus, die Fragen von Kontinuität und Diskontinuität, Monokratie und Polykratie; um den revolutionären oder gegenrevolutionären, den antimodernen oder modernisierenden Charakter des Regimes, um Hitler, den Widerstand, den nationalsozialistischen Krieg.

Auch wenn Nolte den Revisionisten, den Verfechtern der „Auschwitz-Lüge“, ein ganzes Kapitel einräumt, weil es nicht angehe, ihren Thesen „durch bloße Zurückweisung“, „Verdächtigung ihrer Gesinnung“ oder „meist schlicht durch Totschweigen“ „auf unwissenschaftliche Weise“ zu begegnen, so bleibt sein Resümee eindeutig: „Es gibt daher gute Gründe, die nationalsozialistische ,Judenvernichtung‘ als den größten und schrecklichsten Massenmord der Weltgeschichte zu bezeichnen.“ Diese Position ist ebenso unzweideutig wie Noltes schon 1963 getroffene, damals ungewöhnliche Feststellung: Der Krieg gegen die Sowjetunion müsse als „der ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg der Neuzeit“ bezeichnet werden.

„Der leibhaftige Böse“ wurde Nolte als einer derjenigen, die 1986 den Historikerstreit provoziert hatten. Damals hatte er geschrieben: Der Vorsitzende der „Jewish Agency for Palestine“, Chaim Weizmann, habe mit seiner Erklärung vom 5. September 1939, daß die Juden auf der Seite Großbritanniens stünden und im Krieg mit den Demokratien kämpfen würden, „eine Kriegserklärung gegen Hitler“ abgegeben, was die „folgenreiche These“ begründen könnte, „daß Hitler die deutschen Juden als Kriegsgefangene behandeln und das heißt internieren durfte“. Demgegenüber heißt es in den „Streitpunkten“ 1993 – zunächst, auf späteren Seiten wieder eingeschränkt – ganz moderat: „Aber darf man Amerikanern und auch Juden wie etwa ... Weizmann einen Vorwurf daraus machen, daß sie eine Politik unterstützten, für die in jedem Fall auch starke objektive Gründe sprachen?“ Hatte Nolte 1987 in seinem Buch „Der europäische Bürgerkrieg“ zum sogenannten „Altersghetto“ Theresienstadt, wo von 140.000 Deportierten 19.000 überlebten, noch behauptet, daß „dort eine Anzahl von alten und privilegierten Juden ein zwar abgesondertes, aber doch erträgliches Dasein führte“, so verneigt er sich nun, wenn auch etwas knapp und verkniffen, vor H.G. Adlers Monographie „Theresienstadt“.

Da der Autor hier nicht explizit argumentiert, nicht wirklich frühere Positionen öffentlich revidiert, stolpert er – und das ohne argumentative Not – sogleich und nicht nur ausnahmsweise in eine jener Formulierungen, die ihm das Prädikat des Revisionisten, des für die Fakten blinden Geschichtsentsorgers eintrugen: Nach ihrer Einlieferung in Auschwitz hätten die Zigeuner dort, so Nolte in den „Streitpunkten“, „zunächst in einem ,Familienlager‘ relativ unbehelligt“ gelebt, bis sie dann im Sommer 1944 „in die Gaskammern geschickt wurden, soweit sie nicht arbeitsfähig waren“. Warum dieser aberwitzige Satz, warum kein „Cheflektor“ Rainer Zitelmann, der einfach streicht? Faktum ist: In der Zeit zwischen Februar 1943 und Juni 1944 wurden etwa 23.000 Zigeuner in das sogenannte Familienlager eingeliefert, einige hundert von dort in andere Lager zur Zwangsarbeit überstellt, am 2. August 1944 wurde das Zigeunerlager „aufgelöst“, wurden 2.897 Männer, Frauen und Kinder vergast. Die meisten, mindestens 18.000 Menschen, waren innerhalb von 15 Monaten an den Folgen des von Nolte so bezeichneten „relativ unbehelligten“ Lebens gestorben.

Von solchen Entgleisungen abgesehen, bleibt der erste Teil der „Streitpunkte“ zumindest anregend – folgte nicht der zweite, die „künftigen Kontroversen“. Sie umfassen etwa 100 Seiten, also ein Viertel des gesamten Textes. Dabei geht es Nolte nicht um einzelne Charakteristika und Streitfragen rund um den Nationalsozialismus, sondern um die – neutral gesprochen – vergleichende Einordnung des Phänomens. Gewinnt der erste Teil des Buches seine Stärke aus dem breiten, durchaus hemmungslosen und unorthodoxen Zugriff auf große Teile der Forschungsliteratur, so wird Nolte im zweiten Teil zum Apologeten seiner selbst.

Natürlich ist es berechtigt, nach der möglicherweise bestehenden „inneren Einheit der Zeit von 1917 bis 1989/91“ zu fragen und „die enge Wechselbezogenheit ihrer hervorstechendsten Phänomene“ dem „historischen und vergleichenden Nachdenken“ zu erschließen. Es ist nachdenkenswert, wenn Nolte schreibt, der Nationalsozialismus ließe sich als „biologischer Sozialismus“ kennzeichnen, der „ganz wie der soziale Sozialismus Elend und Not ,abschaffen‘ will, aber nicht durch eine tiefgreifende Veränderung der Produktion, sondern durch einen quasi ärztlichen Eingriff in angebliche Wucherungen, welche die Gesundheit des ,Volkskörpers‘ gefährden“. Sicher ist es auch richtig, zumindest zu fragen, ob nicht die Ideen des Egalitarismus und der „Verbesserung“, soweit sie von der Idee der Freiheit auch nur tendenziell abgetrennt wurden – „die Ewige Linke“, wie Nolte den Vorgang in der ihm eigenen Grobheit umreißt –, mit ursächlich für die Katastrophen des Jahrhunderts waren. Sicher darf und soll auch erforscht werden, ob und, wenn ja, wie sich die Inspiratoren der deutschen Vernichtungspolitik von sowjetischen Vorbildern beeinflussen ließen. Daraus aber ergibt sich weder „ein logisches“ noch „ein faktisches Prius“. Wer diesen Fragen nachgeht, der braucht nicht, wie Nolte, Rosa Luxemburg als „jüdische Revolutionäre des Ostens“ zu suchen, um – immer fragend, immer im Konjunktiv – den angeblich „rationalen Kern“ des völkischen Antisemitismus zu finden. Eines Antisemitismus, zu dessen frühesten Opfern eben auch Matthias Erzberger und Walther Rathenau zählten.

Mindestens an einem Punkt wächst Nolte über Nolte hinaus: Hatte er im Historikerstreit die Gaskammern zur Nebensächlichkeit verkleinert, so arbeitet er nun „das Singuläre“ auf seine Weise heraus: Hitler und seine SS-Führer hätten das „humanere Mittel“ gesucht, dies gelte es ernst zu nehmen. Nolte zitiert den Vorschlag des Sturmbannführers Höppner an Eichmann, daß es, so Nolte, „,humaner‘ sei, die Juden durch Gas zu töten, als sie verhungern zu lassen“. Aber Nolte zitiert falsch. Denn Höppner fügte hinzu: „Auf jeden Fall wäre dies angenehmer.“ Angenehmer, „humaner“ für die Mörder – nicht für die Opfer.

Kein Zweifel: Ernst Nolte hat auch die Züge eines störrischen Querulanten. Aber seine monomanische Suche nach einem alles erklärenden Paradigma für diese Epoche der Weltkriege und Massenvernichtung sollte uns nicht hindern, genau hinzuschauen und ihn dort ernst zu nehmen, wo er richtige Fragen stellt. Eine Epoche, deren Ende die Jahre 1989/91 markieren. Die aber nicht – wie Nolte meint – im Oktober 1917 ihren gewaltsamen Anfang nahm, sondern im Juli 1914, nicht im revolutionären Osten, sondern in der bürgerlichen Mitte Europas.

Ernst Nolte: „Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus“. Propyläen Verlag, 500 Seiten, 58 DM