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Shakespeare für Politologen

Ekkehart Krippendorffs politische Lektüre der Dramen  ■ Von Thomas Pampuch

„Man kann mit Shakespeare alles machen, wenn man es kann“, hat Bert Brecht einmal gesagt. Und viel ist mit Shakespeare gemacht worden, weiß Gott, von Könnern und Nichtkönnern. So viel, daß man sich wundern mag, daß sich doch immer wieder jemand an den alten Giganten herantraut und ihm Neues entlocken möchte. Doch, ganz ehrlich, wir Shakespeare-Fans freuen uns jedes Mal, wenn irgendwo ein Lear, ein Kaufmann von Venedig, ein Othello oder gar eines der wenig gespielten Stücke angekündigt wird. Manchmal verlassen wir zwar dann frustriert das Theater, schnaubend vor Wut, was man mit „unserem Shakespeare“ da wieder angestellt hat, aber der Kitzel, das (scheinbar) Altbekannte in immer wieder neuen Gewändern zu sehen – auch er bietet Befriedigung. Oder, etwas pompöser gesagt: „Wenn uns zu Shakespeare nichts Neues mehr einfällt, wird das die Todesanzeige unserer Kultur sein.“

Well roared, lion, möchten wir befriedigt rufen, wenn wir diesen Satz in Ekkehart Krippendorffs Buch „Politik in Shakespeares Dramen“ gleich zu Anfang der Einleitung präsentiert kriegen: William goes OSI, kein Zweifel, wenn schon die Einleitung „Erkenntnisinteresse“ betitelt ist.

Bloß dann gleich ein Ärgernis: Was soll diese falsche Bescheidenheit, es für vermessen zu erklären „noch dazu für einen Außenseiter- Politologen, sich überhaupt an diesen Stoff zu wagen“. Warum soll nicht auch so einer was Kluges zu Shakespeare sagen, nach all den Legionen von Experten, Shakespeareologen, Englischlehrern, Rezensenten, Regisseuren, Schauspielern, Hinzen und Kunzen? Und warum muß unaufgefordert auch noch auf die Bescheidenheit hingewiesen werden, nur einen Faden von hundert möglichen zu verfolgen, „in der bewußten Beschränkung auf nur ein Thema, für das er (Krippendorff) vom Fach eine gewisse Qualifikation besitzt oder zu besitzen beansprucht“. Wozu dieses Mäusegezirpe in einem Buch, daß uns einen genialen Analytiker, Dramatiker und Possenreißer doch näherbringen soll? (Und es ja auch tut.) Da schüchtert der sich schüchtern gebende Professor ohne Not ein – wie es so oft und gern eben jene Berufsinterpreten machen, daß wir vor lauter Schulweisheiten nicht mehr zum Träumen kommen. Es mag eine Kunst sein, Shakespeare zu lesen (Brecht), aber eine Vermessenheit sollte es nicht sein, wenn einer dann auch mitteilt, was ihm dabei aufgefallen ist.

Daß man vor der Genialität Shakespeares erschauern kann, weiß ohnehin jeder, der sich näher auf ihn eingelassen hat. Und es fehlt nicht an Großen, die es bekannt haben: „Er kennt die letzten Gründe aller Phänomene“ (Heine), hat „alles vorausgewußt“ (Karl Kraus), war „ein Wesen höherer Art ..., das ich zu verehren habe“ (Goethe). Krippendorff bringt da eine schöne Reihe von Zitaten. Gemeinhin sind es vor allem die Sprache und die dramatische Kunst, die dieses Erschauern auslösen. Krippendorffs Interesse gilt einer spezielleren und gleichzeitig umfassenderen Genialität Shakespeares – der politischen; und an einem Dutzend Stücken (Historien, Römerdramen, Tragödien) sucht er sie zu verdeutlichen. Dabei scheint zwar immer auch die Sprachgewalt der Dramen auf, im Zentrum aber steht die „Shakespeare-Welt“, dieses eigene Universum der Erkenntnis, in dem sich selbst im kleinsten Bruchstück, „gleich der ganze universelle Zusammenhang ... offenbart“, wie es Heine einmal beschrieben hat. Macht, Liebe, Herrschaft, Krieg und Frieden, die Fragen, die Zweifel, die Antworten und alles, was dazwischen sich abspielt.

Fürchtet man zunächst, daß Krippendorff als Mann vom Fach nun viel mit der Botanisiertrommel klappern wird, so wird man bald beruhigt. Zwar nutzt der Autor gelegentlich sein politologisches Fachinstrumentarium und verwendet auch mal Polit-Neudeutsch, wenn er den Charakteren und Problemen näherrücken will. Da ist etwa von „Systembrutalität“ die Rede, oder scheinen die Hexen „davon auszugehen“, daß Macbeth in jedem Falle auf der Siegerseite sein wird. Aber insgesamt läßt das Buch erfrischend und erhellend Shakespeares Sprache (zusammen mit den vor allem verwendeten textgetreuen Prosaübersetzungen) ausführlich für sich selbst sprechen. Das erhöht die Freude und macht Lust, nach dem Originaltext oder den verschiedenen Übersetzungen zu greifen. (Dankenswerterweise wird jeweils die Fundstelle genau angegeben.)

Krippendorff benennt als seine ursprüngliche Motivation die Entdeckerfreude. Und es gelingt ihm, den Leser an seinen Entdeckungsreisen in Shakespearien teilnehmen zu lassen, ohne ihn dabei sehr zu gängeln, ohne ihm etwas aufzuschwatzen. „Shakespeare drängt uns nichts auf, er verkündet keine Botschaften im Gewande der Poesie.“ Daran hält sich auch der Interpret. Selbst ein Stück wie der Coriolanus, allgemein als Shakespeares politischstes angesehen, entzieht sich – Krippendorff zeigt dies umsichtig – schneller ideologischer Festlegung, obwohl es doch die Klassenherrschaft deutlicher als alle anderen beschreibt. Aber eben auch das Zögern der den Aufstand probenden Plebejer: „Wir haben freilich die Gewalt, aber es ist eine Gewalt, die wir nicht die Gewalt haben zu gebrauchen!“ Shakespeare zeichnet jede Figur, jede Position, jede politische Aktion (oder Nichtaktion) in der ihr eigenen Be- und Gefangenheit. Was „richtig“ ist, müssen wir selbst herausbekommen, wobei gilt, „daß wir bei Shakespeare nur dort Antworten finden, wo wir selbst Fragen stellen.“ (Und die können sehr verschieden ausfallen. Die amerikanischen Besatzungsbehörden etwa haben den Coriolanus 1945 in Deutschland als “glorification of dictatorship“ gar auf den Index gesetzt.) Krippendorffs Methode besteht darin, akribisch die einzelnen Dramen mit den alten (und auch neuen) Fragen auf ihre politischen Implikationen hin abzuhorchen, den vielen Verästelungen, den Querverweisen, den Anspielungen, den Brüchen und Widersprüchen der handelnden Personen – allesamt Politiker – nachzuspüren. Er findet dabei eine Reihe neuer (politischer) Lesarten und offenbart auch damit den „Reichtum und die Vieldimensionalität Shakespeareschen Politikverständnisses ..., das ohne den lebenden Menschen, das konkrete Individuum, was immer dessen objektive historische Funktion auch sein mag, nicht auskommen will“. Vielleicht ist es ja deshalb auch so verteufelt schwer, eine generelle Einschätzung der politischen Überzeugung des Dichters zu geben – aber wozu auch? Krippendorff jedenfalls läßt sich nicht darauf ein, zitiert lieber, wenn es denn sein muß, andere, die sich daran (oder im Streit darum) schon die Zähne ausgebissen haben.

Selbst in der besten Inszenierung vermag man (Gott sei Dank!) nicht hinter alle Schliche des Meisters aus Stratford-on-Avon zu kommen. Shakespeare zu lesen oder zu „studieren“, wie Krippendorff es anregt und vormacht, bringt ohne Zweifel neue, weitere Einsichten und Freuden: Jedes Stück ist ein kunstvoll geknüpftes Netz, in dem Grundfragen der Menschen am Beispiel von Menschen ans Licht geholt werden. Da zappeln sie dann, die Caesar, Hamlet, Macbeth, Lear, die Heinriche, die Richards. Und es bleibt eines der größten und erhellendsten Vergnügen, ihnen dabei zuzusehen. Krippendorffs Buch macht Lust auf Shakespeare und noch mehr Shakespeare.

Ekkehart Krippendorff: „Politik in Shakespeares Dramen“.

Suhrkamp Verlag, 64 DM

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