piwik no script img

Küsse durch Gazeschichten

Von der Geisha zur Lederbraut, vom Kabuki-Theater zum Großstadtkino – Frauen im japanischen Film. Zu einer Retrospektive im Rahmen der 43. Berliner Festwochen  ■ Von Michaela Ott

„An welcher Krankheit ich leide?“ gibt eine junge Japanerin die Frage ihres Arztes zurück. „Dafür haben auch Sie kein Heilmittel. Sie heißt: Delinquenz.“ Dabei bewegt sich die Kamera auf die weiße, glatte, fast ausdruckslose Fläche des Frauengesichts zu, verharrt gleichsam in der Frage. Es ist die einzige Nahaufnahme des ganzen Films, die Schlußeinstellung von „Osaka-Elegie“ (1936), einem der frühen Filme von Kenji Mizoguchi, einem gelernten Textildesigner, der mit seinen 85 Filmen zum japanischen Pendant eines John Ford wurde.

Das Scheitern als Figur

Was sich in dem schmalen Dialog und der bewußten Offenheit dieser Schlußeinstellung nur andeutet, ist eine Grundfigur des japanischen Kinos: das Scheitern eines individuellen Querschlagversuchs. Um die Trinkschulden ihres Vaters zu begleichen und den Bruder im Studium finanziell zu unterstützen, wurde die Protagonistin die Geliebte ihres Vorgesetzten, arbeitete später in einem Geisha-Haus, bis sie, mit ihrem Verlobten verabredet, dem Freier zuletzt die Dienste für das ausgehändigte Geld verweigerte. Des Diebstahls beschuldigt und verhaftet, gerät sie als „Delinquentin“ in die Schlagzeilen. Nicht nur verliert sie den Mann, den sie liebt und später heiraten wollte, auch von ihrer Familie wird sie verstoßen – und damit definitiv ins gesellschaftliche Abseits gedrängt.

Dieser streng komponierte und sachlich ausgestattete Schwarzweißfilm stellt sowohl in Mizoguchis Werk wie in der japanischen Filmgeschichte einen folgenreichen Einschnitt dar: Dank seiner mit distanzierter und fast unbeweglicher Kamera in langen Einstellungen gedrehten Szenenfolge (in der für Mizoguchi typischen „one scene one cut-Manier“) gilt er als der erste realistische japanische Film.

Er ist zweifelsohne einer der schönsten, formal gelungensten Filme innerhalb der Retrospektive des japanischen Kinos, die zur Zeit in Berlin als Rahmenprogramm der Ausstellung „Japan und Europa 1543–1929“ zu sehen ist. In seiner Nüchternheit ist er zugleich eine Schnittstelle zwischen japanischer und europäischer Kultur: Um 1919 hatte eine Gruppe von Intellektuellen die Überwindung der starr-traditionellen Kabuki- Theaterverfilmungen zugunsten einer Anbindung des japanischen Kinos an den europäischen und amerikanischen Film gefordert. Die Losung „reines Filmtheater“ sollte natürlichere und realistischere Darstellungen ermöglichen, neuen Spielraum eröffnen. Dazu gehörte – und auch in dieser Hinsicht ist „Osaka-Elegie“ die erste radikale Einlösung der Forderung – die Wiedergabe eines realistischen Frauenbilds. Das kam in Japan einer Blasphemie gleich.

In den traditionellen Kabuki- Aufführungen traten nämlich ausschließlich männliche Darsteller auf, und noch in den frühen Theaterverfilmungen waren alle Frauenrollen mit Männern besetzt.

Frauen spielen Frauen

Um der Frau zur filmischen Präsenz zu verhelfen, wurde von den neu gegründeten Shochiku-Studios eigens ein Regisseur aus Hollywood engagiert. Henry Kotani gelang das Unglaubliche: Kurushima verkörperte die erste weibliche Hauptrolle in seinem Film „Feuermohn“ (1921); sie wurde damit die erste Schauspielerin, deren Fotos mehr gekauft wurden als die der beliebtesten Geishas.

Zwar hatten im Laufe der dreißiger Jahre verschiedene Regisseure unter dem sogenannten „Kamata-Stil“ nach einem volkstümlich-alltäglichen Realismus gesucht, aber ihre Frauentypen zeichneten sich stets durch leidende Selbstaufopferung für Mann und Familie aus. Im Vergleich zu seinem Zeitgenossen Yasujiro Ozu verlieh Mizoguchi seiner Frauengestalt relative Bewegungsfreiheit im Großstadtraum – der „Delinquenz“, gegen ihren Willen Opfer der rücksichtslosen Männergesellschaft zu werden, entging sie dennoch nicht.

In Ozus strengen Kammerspieldramen hingegen fungierten die Frauen vornehmlich als Heiratsjoker. Als solche bringen sie Verunsicherung und die nötige erzählerische Minimalbewegung in die ärmlichen und beschränkten, in starrem Rahmen gefilmten Familienverhältnisse. Als Scharniere zwischen alter und neuer Welt verkörpern sie den Übergang von der sich auflösenden Großfamilie zur beengteren städtischen Lebensform.

Im Versuch der Realisierung eines gewissen eigenen Lebensglücks werden sie wie in „Die Reise nach Tokyo“ (1953) – Ozus Form der „Delinquenz“ – schuldig an der elterlichen Vereinsamung.

Kleinbürgerfilme

Ein Ehepaar aus der Provinz besucht die junge Familie in Tokio und stellt fest, daß man sich unwiederbringlich auseinandergelebt hat. Auch Mikio Naruse, der zusammen mit Ozu in den auf Kleinbürgerfilme spezialisierten Shochiku-Filmstudios arbeitete, zeigte in seinen unprätentiösen und detailreichen Filmepen Frauen als die unfreiwillig-willigen Leidtragenden der ärmlichen Verhältnisse. Sein Filmporträt „Mutter“ (1952) ist aber nicht nur ein Beitrag zum beliebten, häufig sentimentalen „Mutterfilm“, sondern zeichnet ein sachliches und nuanciertes, aus Hinnahmebereitschaft und unaufdringlicher Widerstandskraft komponiertes Bild der zentralen Figur jener Armenmilieus.

Einen „qualitativen Sprung“ weg von diesen verhaltenen weiblichen Leidensgeschichten brachte der erste Filmkuß in „Jugend mit zwanzig“ (1946) von Yasushi Sasaki. Er mußte freilich noch mit Gaze zwischen den Lippen ausgeführt werden.

Der eigene Körper

Nur mühsam gewann das Recht auf Verfügung über den eigenen Körper im japanischen Kino Leinwandakzeptanz: von den Verfilmungen der legendären Doppelselbstmorde von Liebespaaren aufgrund unüberwindlicher Standesschranken bis hin zu den lasziven Körperübungen einer Tokioter Stripteasetänzerin in „Carmen kehrt in die Heimat zurück“ (Keisuke Kinoshita, 1951). In diesem ersten abendfüllenden japanischen Farbfilm, einem ironischen Musical in Fujicolor, demonstriert „Lily Carmen“ den plötzlichen Einbruch der lockeren amerikanischen Sitten in das traditionsverhaftete Landleben der Nachkriegszeit. Sie, die als Bauerstochter besuchsweise in die Heimat zurückkehrt, übt auf Bergrücken Cancan-Hüpfer und macht mit ihren lasziven Gesangs-, Tanz- und Entkleidungskünsten die gesamte Dorfgesellschaft kopfscheu.

Im Reich der Sinne

Mit der Auflösung der starren Form zieht plötzlich auch die freiflottierende Aggression in die Filme ein. Gewaltsamere und verstörendere Selbstfindungsprozesse von Frauen zeigt Shohei Imamura in seinen auf Inzest, sexuellen Perversionen und Vergewaltigungen basierenden Geschichten wie „Das Insektenweib“ (1963) oder „Aufforderung zum Mord“ (1964). Im Versuch einer Rückbesinnung auf den primitiven Ursprung Japans läßt er in seinen ethnologisch recherchierten und dokumentarisch wirkenden Filmerzählungen häufig rohe und halb animalische Frauenfiguren in entlegenen Landstrichen agieren.

Einen gewissen Höhepunkt der weiblichen Leinwandpräsenz stellt natürlich „Das Reich der Sinne“ (1976) von Nagisa Oshima dar, in dem die Frau als Subjekt ihrer Lust erstmalig – und damit auch im Gegensatz zu den meisten europäischen Sexdarstellungen – ins Zentrum der Beobachtung rückt. „Für dich Kayako“ (1984) von Kohei Oguri rührt mit seiner Darstellung der verpönten Liebe einer Koreanerin zu einem Japaner an ein heute brandaktuelles politisches und gesellschaftliches Tabuthema.

Und mit „Karneval der Nacht“ (1982) von Yamamoto Masachi, das die Tokioter Subkultur aus der Sicht einer harten Lederbraut zeigt, hat die Geschichte der weiblichen Leinwanderoberung in Japan ihren Abschluß gefunden.

Retrospektive des japanischen Films noch bis zum 12.12.1993 im Berliner Martin-Gropius-Bau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen