: Bedrohte Tierart
■ Jagd auf Kinder
Während dieses Krieges in Sarajevo haben wir schon alles mögliche erlebt. Aber was neulich passiert ist, hat uns richtig niedergeschlagen. Zunächst wurde uns mitgeteilt, daß wir sofort alle unterirdischen Schutzräume vorbereiten müßten, weil die UNO- Flugzeuge bestimmt mit der Bombardierung der Serben beginnen würden, die die Stadt umzingelt haben. Dann kündigte ein UNO-Sprecher vor Hunderten von Journalisten an, daß die Blockade von Sarajevo nicht existiere und daß das einzige wahre Problem die Kämpfe in Zentralbosnien seien. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir außerdem, daß die Soldaten, die 15 Monate lang die Stadt umzingelt hatten, sich zurückgezogen hätten. Gegen Ende der Woche mußten wir schließlich feststellen, daß eine wahre Jagd auf Kinder begonnen hatte. Innerhalb weniger Stunden wurden diese verletzten Kinder nämlich in einer spektakulären Aktion von Militärflugzeugen nach Großbritannien oder in irgendein anderes Land transportiert, ohne sich wenigstens von ihren Eltern oder Verwandten verabschieden zu können.
Damit war der Alptraum aber noch nicht zu Ende. Die Amerikaner und die Europäer begannen einen richtigen Kampf über unsere Köpfe hinweg. Die kleinen Europäer setzten sich großartig diplomatisch und politisch in Szene, um den Amerikanern zu zeigen, daß ihre militärische Aktion völlig unangebracht sei, da Sarajevo nicht blockiert wäre. Also gab es keinen Grund zur Panik. Dadurch wurden 160 ausländische Journalisten arbeitslos. Ihnen fehlte die spektakuläre Story, die alle Titelseiten der Zeitungen von ihnen erwarteten. Sie mußten sich also selbst zu helfen wissen, um eine andere Geschichte zu finden. – Was sie dann auch taten. Jeder von diesen Journalisten beschloß, eins von diesen Kindern in ein anderes Land zu transportieren und stiftete dabei ein richtiges Chaos.
Die erschöpften Ärzte der Krankenhäuser von Sarajevo schauten voller Überraschung bei dieser Jagd nach Kindern zu, an der sich die ganze Welt mit Hilfe monströser Fernsehkameras beteiligte. Alle wunderten sich, wie eine solche Aktion überhaupt finanziert werden konnte, während am vorigen Tag noch davon die Rede gewesen war, daß es wegen der Geldknappheit ganz und gar unmöglich sei, das Krankenhaus mit Benzin zu versorgen, und daß leider weiter bei Kerzenlicht operiert werden müßte.
Warum werden diese Kinder mit Flugzeugen abtransportiert, wenn Sarajevo tatsächlich nicht blockiert ist? Warum werden sie so weit weg geschickt, während es erst vor einigen Tagen noch hieß, sie müßten unbedingt hier bleiben? Vielleicht, weil die Pflegekosten hier höher lägen, vor allem aber, weil es für die nach aufregenden Erlebnissen gierenden Fernsehzuschauer nicht so spannend wäre. Sarajevo könnte in der Tat mit einem zoologischen Garten verglichen werden – mit vielen vom Aussterben bedrohten wilden Tieren, von denen die großen Weltmächte jeweils ein Exemplar ergattern wollen.
Ich persönlich bin sehr zufrieden, zu hören, daß Sarajevo überhaupt nicht blockiert ist, und außerdem zu erfahren, daß ich überall hingehen kann, wo es mir gefällt. Daß ich jeden Tag 50 Liter Wasser so mühsam heranschleppen muß, weil es mir Spaß macht. Daß ich nur jeden zweiten Tag esse, weil ich eigentlich eine kleine Diät mache. Daß ich jeden Tag Dutzende von Toten sehe, die eigentlich nicht von Granaten oder Kugeln erschossen wurden, sondern letztlich sich aus lauter Spaß und Freude umgebracht haben. Am Anfang dachten wir, daß keiner mehr etwas verstehen könnte und daß ihr alle verrückt geworden wärt. Mittlerweile haben wir aber verstanden, daß die perverse Welt es genießt, uns leiden zu sehen. Ihr müßt allerdings wissen, daß es immer schwieriger sein wird, uns wilde Tiere zu zähmen und zu dressieren. Diese seltene Spezies – deren Leiden ihr euch so gerne auf euren kleinen Fernsehschirmen anglotzt – wird wütend. Ich fürchte, daß diese ganze Aktion für die Großen der Welt sehr schlecht enden wird.
Zlatko Diždarević, 2. Chef-
redakteur von Oslobodjenje
(Übersetzung: Geneviève Hesse)
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