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Rückkehrer im Traumland

Die Pintubi Australiens leben heute wieder in ihrem angestammten Gebiet / Ehemalige Nomaden zwischen Goanna-Jagd und Fertighaus, Selbstorganisation und Sozialhilfe  ■ Aus der australischen Wüste Dorothea Hahn

Die grobporige braune Kugel gleitet langsam über die Oberlippe. Feucht und schwer bleibt sie im Mundwinkel hängen. „Schneller“, spornt Muntoowa die Fahrerin an. „Schneller. Wir haben noch einen weiten Weg.“ Zur Betonung stampft die Frau mit ihren nackten Füßen auf den Boden vor dem Beifahrersitz. Auf den hinteren Sitzen des Jeeps stimmen ihre Freundinnen lauthals zu. Jede hat eine Tabakkugel zwischen den Lippen.

Die sieben Frauen vom Stamm der Pintubi sind auf der Jagd. Sie wollen Goannas fangen, armlange Echsen, deren großschuppige ledrige Haut auf dem roten Wüstenboden kaum auffällt. Unter den Wagensitzen liegen wassergefüllte Blechkanister, die bei der holprigen Fahrt über den Sand scheppernd gegen die Metallstäbe schlagen, die die Frauen als einziges Werkzeug mitgenommen haben. Später werden sie mit den Stäben in den faustgroßen Löchern im Boden stochern, die zu den Höhlen der Goannas führen.

Die Fahrt geht über das Stammesland der Pintubi im Herzen Australiens – eines der trockensten Gebiete der Erde. Jahrelang bleibt der Regen aus. Viele hundert Kilometer im Umkreis fließt kein einziger Fluß. Die auf den Landkarten gestrichelt eingetragenen Seen sind nichts weiter als dicke Salzkrusten über ausgetrockneten Becken. Die nächste Stadt – Alice Springs – ist 500 Kilometer entfernt. Bis zur nächsten asphaltierten Straße ist es fast genauso weit.

Für die Pintubi, einer der ursprünglich über vierhundert Stämme der australischen Ureinwohner, ist dies das auserwählte Land. Nach ihrem Glauben wurde es in der „Traumzeit“ von gigantischen Wesen geschaffen. Seither zogen die Pintubi in kleinen Gruppen über seine rote Krume. Das Land gehört ihnen, umgekehrt verstehen sie sich selbst als Teil des Landes. Das alte Gesetz gilt für die Pintubi bis heute: Wenn sie weiterleben wollen, müssen sie dafür sorgen, daß es ihrem Land gutgeht.

„Seht ihr das Feuer?“ Muntoowas Finger weist auf drei kleine weiße Rauchwolken am blauen Himmel. Die Frauen im Jeep sind froh über den Wüstenbrand. Er sagt ihnen, daß ihre Männer an diesem Augusttag das Land pflegen, wie es die Pintubi seit Urzeiten tun. Die Flammen verschlingen das wuchernde Spinnifex-Gras, das sonst alle anderen Büsche erdrücken würde, die Hitze öffnet die Samenkapseln kleiner Sträucher, und die Asche düngt den Boden. Wenn der Winter vorbei ist, wird zwischen den verkohlten Zweigen neues Grün sprießen.

Für Nicht-Aborigines ist diese Region wertlos – für die Viehhaltung ist sie zu trocken, und Bodenschätze wurden hier noch nicht entdeckt. Erst in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, als die meisten Ureinwohner Australiens längst in Ketten von ihrem Stammesland abgeführt worden waren, hatten die Pintubi ihre erste Begegnung mit dem weißen Australien. Die Eindringlinge beschränkten sich darauf, Shorts an die Nackten auszuteilen. Dann verließen sie das Gebiet der „letzten Wilden“ wieder.

Drei Jahrzehnte später erinnerte sich das weiße Australien an die Pintubi. Der Stamm wurde gezwungen, sein Land zu verlassen. Männer, Frauen und Kinder mußten 300 Kilometer weiter westlich in die Schwarzensiedlung Papunya ziehen. Aus der Einsamkeit der Nomaden wurden die Pintubi in das Zusammenleben mit Tausenden von Aborigines anderer Völker getrieben. „Menschen wie Ameisen“, erinnern sich die Alten an ihren ersten Schock.

In Papunya sollten die Pintubi seßhaft werden. Statt dessen kamen Krankheiten, Elend und Gewalt über sie. „Wir soffen und wir mordeten uns gegenseitig. Wir hatten Angst, daß unser Volk aussterben würde“, sagt Benny Tjapaltjarri, der damals zusammen mit anderen alten Männern seines Stammes verzweifelt nach Auswegen suchte.

1981 stand ihr Entschluß fest – die Pintubi kehrten zurück in die Wüste. Die Regierung, die sich zwischenzeitlich von der Politik der Zwangsassimilation verabschiedet hatte, unterstützte ihre Heimkehr.

Per Federstrich erhielten die Pintubi ihr mehrere tausend Quadratkilometer großes Stammesgebiet zurück. Ein Treuhandfonds verwaltet es für sie. Im Gegensatz zu den meisten anderen australischen Ureinwohnern mußten sie nicht um ihr Land kämpfen. Denn niemand sonst hatte Interesse daran.

Auch wenn das Land unberührt geblieben war – die Pintubi selbst hatten sich verändert. Die Zeit, in der sie in kleinen Gruppen, mit Speer und Boomerang bewaffnet, zu Fuß den Wasserstellen und den Tieren hinterherzogen, war für immer vorbei. 1981 kehrten fünfhundert Pintubi in japanischen Geländewagen auf ihr Stammesland zurück und ließen sich in einer festen Siedlung nieder.

Sie wählten den heiligen Ort Kintore für ihre Dreiraumhäuser mit Strom, Wasser und Solarheizung. Nur die ganz alten Frauen und Männer zogen es vor, wie früher unter dem offenen Himmel zu schlafen. Ihre hüfthohen Verschläge aus Wellblech, Decken und trockenen Zweigen stehen jetzt zwischen den Fertighäusern, der Schule, der Krankenstation, der Flugzeuglandebahn und den Münztelefonen. Das nötige Geld für den Aufbau schickte die Regierung durch verschiedene Aborigines-Institutionen.

Die Frauen im Jeep sind alle älter als die Vertreibung. Sie kamen noch auf Stammesland zur Welt. In der Schwarzensiedlung haben sie ein paar Brocken Englisch gelernt. Sie haben das gegrillte Hühnchen und die Hamburger schätzen gelernt und sich an die europäische Kleidung gewöhnt. Aber sie gehen immer noch barfuß.

Nach der Rückkehr gründeten die Pintubi einen „Rat“, der die Belange des Zusammenlebens und die Kontakte zur Außenwelt regelt. Seine erste und rigoroseste Entscheidung war ein striktes Alkoholverbot. Wer mit „Grog“ erwischt wird, riskiert drakonische Geldstrafen. Beim dritten Mal wird er an die Polizei in Papunya übergeben.

Das Verbot funktioniert. Ab und zu schnüffeln ein paar Jugendliche Benzin – aber auch das kommt in Kintore seltener vor als in den meisten anderen Aborigines-Siedlungen. Seit es keinen „Grog“ mehr gibt, sind auch die Gewaltverbrechen zurückgegangen. Der alte Benny Tjapaltjarri resümiert die Rückkehrerfahrung nach zwölf Jahren: „Wer in Papunya ein Mörder war, wurde in Kintore trocken.“

Der „Rat der Pintubi“ ist auch Arbeitgeber für die meisten der rund zwanzig weißen Angestellten – Sozialarbeiter, Ärzte und Verwaltungskräfte, die für das öffentliche Wohl in Kintore sorgen. Die Pintubi selbst beziehen meist Arbeitslosengeld und gehen auf die Jagd. In Lohn und Brot stehen nur wenige. Eine Handvoll alter Männer malt Ölbilder, die in den Galerien von Alice Springs teuer verkauft werden.

Zwei Stunden hat die Fahrt durch die baumlose flache Wüste gedauert. Kein Mensch hat den Weg der Frauen gekreuzt. Auf Pintubi haben sie ein endloses Lied gesungen, das die Landschaft beschreibt.

Am Ziel schwärmen sechs von ihnen zur Goanna-Jagd aus. Annmenory bleibt zurück, um Früchte zu suchen und Holz für das Feuer. Barfuß geht sie über den harten Boden zwischen den kleinen Büschen. Ihre Fußabdrücke legen sich über die Spuren der Schlangen, Vögel und Wildkatzen.

Annmenory trägt eine blau-rote Pudelmütze mit Bommel, ein löchriges blaues Hemd und einen knielangen leuchtend bunten Rock. Die verschlissene Knautschlack- Handtasche hat sie auf dem linken Arm bis zur Schulter hochgeschoben. Wenn sie sich zum Pflücken bückt, beginnt die Wüste zu leben. Unter harten grauen Blättern holt sie kirschgroße, saftige Buschtomaten, honigsüße Buschrosinen und harte, würzige Mulga-Früchte hervor.

Zum Erzählen der Schöpfungsgeschichte aus der „Traumzeit“ der Pintubi setzt sich Annmenory hin und legt die Handtasche auf dem Wüstenboden ab. Ihre kurzen englischen Sätze sind von Pausen unterbrochen. Mit dem Zeigefinger kratzt sie unaufhörlich Kreise und Wellenlinien in den Sand.

„Zwei Frauen reisen über das Land. Sie kommen einen weiten Weg. Da haben sie gesessen. Seither ist ein Wasserloch an der Stelle. Dort hinten trafen sie auf die Riesengoanna. Sie schlugen ihr den Kopf ab, und die Goanna versteinerte. Die beiden Frauen gingen weiter. Dann wurden sie selbst zu Stein.“

Kintore liegt zwischen den beiden Felsen aus der „Traumzeit“. Bis zum Horizont sind sie die einzigen Erhebungen aus dem flachen Grund. In die Nähe der langgestreckten Formation dürfen nur Frauen gehen. Es ist das Land für ihre Zeremonien. Die geköpfte Goanna gegenüber ist Männerland. Nur Männer, die durch die harten Rituale der Initiierung gegangen sind, Monate unter freiem Himmel gelebt und von den alten Männern die Geheimnisse der Stammesgeschichte erfahren haben, dürfen es betreten.

Ein handgeschriebenes Schild am Ortseingang von Kintore warnt davor, unerlaubt Ausflüge und Fotografien zu machen. Doch unerwünschte Besucher kommen ohnehin kaum so weit. Wer nach Kintore will, muß einen förmlichen Einreiseantrag beim „Rat der Pintubi“ stellen. Angenommen werden nur Anträge mit einer einleuchtenden Begründung.

Immer willkommen sind die Klempner, Elektriker und Ingenieure, die zu Wartungsarbeiten nach Kintore reisen. Doch auch sie werden auf Abstand gehalten. Ihre umzäunte Unterkunft liegt hinter der Autowerkstatt neben dem dröhnenden Dieselgenerator, der den Ort rund um die Uhr mit Strom versorgt.

„Lange genug haben Weiße in unserer Privatsphäre herumgeschnüffelt“, begründen Pintubi die strenge Auswahl ihrer Besucher. „Das offene Land ist unser Zuhause. Wir wollen keine Fremden in unserem Wohnzimmer.“

Annmenorys Lagerfeuer glimmt nur noch, als ihre Freundinnen schwer beladen zurückkommen. Die Jagd war erfolgreich – jede Frau hat mehrere Goannas erlegt. Jetzt sitzen sie lachend um die Feuerstelle und drücken mit dem Daumen die Därme der Tiere aus. In der Glut des Feuers winden sich die Goannas ein letztes Mal. Wenige Minuten später sind sie gar und werden ohne jede Zutat gegessen. Ihr zähes weißes Fleisch schmeckt nach ungewürztem Hühnchen.

Ein Metalldöschen macht die Runde. Die Frauen verkneten die braunen Tabakfasern aus der Dose mit der weißen Asche von verbrannten Wüstenkräutern zu daumennagelgroßen Kugeln, die sie an ihre Lippen kleben. Bei der Heimfahrt hängt der schwere süße Duft von Tabak und Schweiß im Wagen.

Kintore empfängt die Frauen in dem weichen roten Licht der untergehenden Sonne. Früher waren sie ständig unterwegs, heute fahren sie morgens los und kommen abends satt und zufrieden zurück. Die beiden mythischen Felsen sind jetzt dunkle Schatten. Zwischen den leeren Konservenbüchsen und zerrissenen Einmalwindeln, die überall im Ort herumliegen, stapfen die Frauen nach Hause. „Dies“, sagt Muntoowa und macht eine weit ausladende Handbewegung, „ist unser Land.“

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