Koalition pflegt ihren Krach um die Pflege

■ Krisengespräch im Kanzleramt / FDP-Chef Kinkel sieht Kompromißfähigkeit erschöpft / SPD: Liberale wieder einmal einseitig auf seiten der Wirtschaft

Bonn (AP/AFP/taz) – Einen Riesenkrach in der Koalition hat die von der FDP erzwungene Absage der Verhandlungen mit der SPD über die geplante Pflegeversicherung ausgelöst. Bundeskanzler Helmut Kohl bestellte die Partei- und Fraktionsspitze der Koalition für den heutigen Morgen zu einer Krisensitzung ins Kanzleramt. FDP-Chef Klaus Kinkel geht allerdings mit der vorab verbreiteten Aussage zum Spitzengespräch, beim Thema Pflege sei seine Kompromißfähigkeit erschöpft. Die Sicht der FDP-Fraktion: CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm ist in der Frage der Pflegeversicherung schlicht zu SPD-lastig. Blüm hält dem entgegen: Die Liberalen verhalten sich nicht nur unfair, sie sind zudem unzuverlässig.

Kinkel machte am Wochenende den Koalitionspartner CDU/CSU für die Absage der Klausurtagung verantwortlich. Die FDP hätte bei den koalitionsinternen Beratungen mehrfach Kompromißbereitschaft bewiesen. Der Vorschlag, die Mehrkosten der Arbeitgeber durch unbezahlte Karenztage im Krankheitsfall auszugleichen, sei schließlich von der CDU/CSU gekommen – und nicht von der FDP. Die FDP habe sich mit ihrem Modell, einer Pflegeversicherung im Selbstversorgungsprinzip, nicht durchsetzen können. Dann habe sich die Koalition „mühselig“ auf der Basis der Unionsvorschläge auf den Karenztage-Kompromiß geeinigt, und schließlich habe die FDP auch noch Zustimmung zur Streichung von zwei Feiertagen signalisiert. Bei den für Samstag geplanten Gesprächen hätte die FDP fürchten müssen, daß sie von Union und SPD „zwischen den Mühlsteinen zerrieben wird“.

Die SPD hat mittlerweile der Bundesregierung eine letzte Frist bis Mittwoch gesetzt, um die abgesagten Verhandlungen doch noch aufzunehmen. Für den Fall, daß die Koalitionsparteien am Mittwoch im Sozialausschuß des Bundestages die parlamentarischen Beratungen über ihren eigenen Gesetzentwurf einfach fortsetzten, drohte der SPD-Sozialexperte Dreßler mit einem Abbruch aller weiteren Gespräche. Dann werde es auch im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat keine Einigung geben. In dem Koalitionsentwurf ist zur Finanzierung der Pflegeversicherung die Einführung von Karenztagen vorgesehen, was die SPD strikt ablehnt.

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Hermann Otto Solms assistierte Kinkel: Bei der Pflegeversicherung wollten sich Union und SPD auf Kosten der FDP einigen. Der Verdacht bleibe, „daß Herr Blüm mit seinem Freund Dreßler in Wirklichkeit ein Modell durchsetzen wollte, das mehr dem der SPD entspricht und bei dem insbesondere die Zusatzbelastung der Arbeitsplätze vorhanden bleibt“. Kommentar von SPD-Chef Scharping: Die FDP habe sich erneut für die Gewerbefreiheit entschieden und die Interessen der Versicherungswirtschaft über die der Menschen gestellt.

Blüm und Dreßler drückten gestern zwar die Hoffnung aus, daß es doch noch Verhandlungen gibt. Blüm erklärte, „keinen Crash- Kurs“ fahren zu wollen. Der SPD- Sozialexperte sah allerdings kommen: „Jetzt ist die Sache so verfahren, daß der Bundeskanzler von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen muß.“

Zuvor hatte ein empörter Arbeitsminister Blüm sein „volles Verständnis für die Verärgerung der SPD und keines für die gegenwärtige Haltung der FDP“ zum Ausdruck gebracht. „Ich bin mit dem SPD-Sozialexperten Dreßler politisch nicht immer einer Meinung, aber Dreßler ist zuverlässig, und das kann ich nicht von jedem FDP-Politiker sagen.“

Die CDU-Sozialausschüsse erklärten ebenso, die Liberalen hätten mit der Absage der Verhandlungen „die Grenzen des Zumutbaren überschritten“. Wenn sich jemand so verhalte wie die FDP, stelle sich die Frage, „ob diese Partei überhaupt noch koalitionsfähig ist“. Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (CDU) verneinte die Möglichkeit, die Koalition könne wegen der Pflegeversicherung platzen: „Nein, die Koalition hat schon ähnlich schwierige Situationen gemeistert.“ wg