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"Voscherau hat kein Gefühl für uns"

■ Am Tag nach der Wahl in Wilhelmsburg / "Schade, daß die Reps nicht drin sind"

„Wollen sie noch mehr über Wilhelmsburg wissen?“. Der Mann am Bahnhofskiosk strahlt über beide Backen. Er würde mich auch zum Kaffe einladen. Ein Tag nach der Wahl ist Wilhelmsburg Medienstar. Das Fernsehen war schon da. In einzelnen Wahllokalen wählten bis zu 26 Prozent DVU und Republikaner.

Ob sie es schade fänden, daß die Republikaner nicht ins Rathaus eingezogen sind? Von elf spontan befragten Passanten im Wilhelmsburger Einkaufszentrum antworteten gestern mittag acht mit „ja“. Er sei „traurig“, daß die Republikaner nicht reinkommen sind, sagt ein 43jähriger Frührenter, der auf der Bahnhofstreppe sitzt. Warum? „Hier wohnen fast nur Ausländer“. Er persönlich habe keine Probleme mit seinen türkischen Nachbarn, ihnen immer geholfen, „wenn die mal Hilfe bei Papierkram brauchten“. Wie er denn auf die Idee gekommen sei, Reps zu wählen? „Durch die Medien“.

Die Antworten der Wilhelmsburger, die an diesem sonnigen Vormittag in der wohnzimmergroßen Einkaufspassage umherschlendern, ähneln alle verdächtig den vom Fernsehen bereits bekannten Erklärungen. Man wolle ja nicht die Reps an die Regierung lassen, aber daß SPD und CDU so viele Stimmen verloren haben, finden alle gut.

Dabei gebe es eigentlich keine Probleme mit den Ausländern, die schon länger dort lebten. Aber inzwischen seien es einfach „zu viele“. Und die Jugendlichen, die hier geboren sind, klagt eine Imbißbuden-Besitzerin, „benehmen sich alle, als ob sie hier das Sagen hätten“ und würden kriminell.

„Zuletzt die Sache mit der Fehlbelegungsabgabe“, erklärt eine junge Mutter. Ab Oktober müssen viele Mieter von Sozialwohnungen zwei bis vier Mark pro Quadratmeter zahlen, für sie und ihren Mann bedeute dies mal eben 130 Mark zusätzlich. „Warten sie mal ab, in zehn Jahren lebt hier kein Deutscher mehr.“ Die gelernte Verkäuferin wollte eigentlich DVU wählen. „Dann hab' ich beim Bügeln den Kandidaten im Fernsehen gesehen. Hab' gedacht, das kann doch gar nicht sein, der redet genauso bescheuert, als wenn ich mich da hingestellt hätte.“

„Zuviele Ausländer, die spinnen doch“. Der 16jährige Oliver weiß nicht, was Reps sind. Auch von der Wahl hat er nichts mitbekommen. Politik ist in der Schule erst am Donnerstag dran. Sicher gebe es Probleme im Stadtteil, „aber das liegt daran, daß hier nichts los ist“. Er und seine Freunde – überwiegend Ausländer – hätten kürzlich versucht, vor ihrem Wohnblock einen Basketball-Korb aufzustellen. Da sei der Saga-Hausmeister gekommen und habe ihn wieder weggenommen. Oliver zeigt mir das Loch im Boden. Auch den eingezäunten Sandkasten und den kleinen Bach dahinter. Ein großer Baum war vor kurzen im Sturm umgeknickt, „da haben wir Jugendlichen die Äste entfernt. Sonst kümmerst sich ja keiner drum“.

Was braucht Wilhelmsburg eigentlich? Andere Mieter? Lehrer, die nicht nach Schulschluß sofort ins Auto steigen und kopfschüttelnd sagen, „kein Wunder, das Wilhelmsburg so gewählt hat“. Studenten zum Beispiel, die Oliver bei der Hand nehmen, zum Hausmeister gehen und sagen, er solle doch bitte nicht so kleingeistig sein und den Basketball-Korb stehen lassen?

Er habe es nicht geschafft, wählen zu gehen, sagt der 29jährige Olaf. Er habe noch nie gewählt, aber an dem Spaß hätte er gern Teil gehabt. Nur, die Reps wären ein bißchen extrem, „gibts da nicht noch was anderes, was nicht so hart ist?“ „Wilhelmsburg war eben im Fernsehen“, erzählt sein Freund, der hinzukommt. Es liegt was in der Luft, Wilhelmsburg wird wichtig.

„Die Politiker sollten alle hierher zwangseingewiesen werden“, sagt ein pensionierter Betriebsrat. Er und seine Frau hätten ihr Leben lang SPD gewählt, aber „der Henning Voscherau hat kein Gefühl für uns.“

Das Rentnerpaar hat Zeit und eine lange Liste von „das wissen wir ganz genau-Beispielen“. Da wäre der Sohn, der keine größere Wohnung für seine kleine Familie, obwohl es Polen gibt, die in Sozialwohnungen leben und zu Hause noch eine Datscha haben. Die Aussiedlerin aus Russland, die bei der Wohnungsbesichtigung auch noch meckert, daß der Balkon zu klein sei. Die „Zigeuner“, für die die Stadt extra Häuser baut, weil die Sippschaft angeblich zusammenbleiben wollte. „Dabei streiten die sich doch auch“. Von den „Zigeunern“ ist es nicht weit bis Adolf Hitler. Der habe ja nur die umgebracht, die nicht arbeiten wollten, sagt der langjährige Betriebsrat und SPD-Wähler aus Wilhelmsburg.

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