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Glanz, Elend und Protest

Im Ost-Londoner Viertel Millwall, wo Neofaschisten eine Wahl gewonnen haben, stehen volle Armensiedlungen neben leeren Bürotürmen  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Unsere Eltern waren machtlos“, sagt der 19jährige Raschid, ein schmaler, dunkelhaariger Inder mit Ost-Londoner Akzent. „Aber wir sind hier geboren, und wir kennen unsere Rechte. Das ist unser Viertel.“ Das Viertel ist eigentlich nur eine Straße: Sie heißt Brick Lane und liegt im Londoner Eastend. Am 11. September sind fünfzig weiße Jugendliche mit Brandbomben durch die Straße gezogen und haben Schaufenster eingeworfen. „Unser Laden mußte auch dran glauben“, sagt Raschid und zeigt auf eins der vielen Textilgeschäfte in der Straße. Der enge Laden ist vollgestopft mit Stoffballen, größere Aufträge muß Raschid auf der Straße in Kartons verpacken. Er gehört der Brick Lane Massive Gang an, einer Gruppe von Jugendlichen, die sich zum Schutz vor faschistischen Überfällen organisiert haben. „Wir unternehmen etwas gegen diese Leute“, sagt der 22jährige Roman. „Wir werden ein paar von ihnen töten.“

Im vergangenen Jahr hat die Polizei 816 rassistische Überfälle im Eastend registriert – mehr als ein Zehntel der Fälle in ganz England. Vor acht Tagen kam es zu einer Straßenschlacht, als Mitglieder der rechtsradikalen British National Party (BNP) Flugblätter in der Brick Lane verteilten. „Das war wie eine Kriegserklärung“, sagt Roman. „Sie versuchen, ihren Rassismus in unsere Straße zu tragen.“ Brick Lane ist das kulturelle Zentrum des Eastend. Hier leben Mitglieder aller Bevölkerungsgruppen seit Jahrzehnten auf engstem Raum zusammen.

Aber die Straße ist nicht typisch. „Das Eastend ist – wie so viele arme Gegenden – mehr ein romantischer Mythos als Wirklichkeit“, sagt die Journalistin Geraldine Bedell. „Es ist kein homogenes Viertel. Dennoch werden die verschiedenen Stadtteile immer zusammengewürfelt, und ihre Einwohner bezeichnen sich selbst als Eastender. Brick Lane zum Beispiel ist völlig anders als der Rest des Eastend, weil es in seiner Exotik zum Modeort geworden ist.“

An der Ecke Fournier Street war früher eine Hugenottenkirche, später ein Zentrum der Gesellschaft für die Bekehrung der Juden zum Christentum. In dreißig Jahren gelang es der Gesellschaft jedoch nur, einen einzigen Juden zu bekehren, so daß die Kirche verkauft wurde – an jüdische Geschäftsleute, die eine Synagoge daraus machten. In der Whitechapel Street am Ende der Brick Lane steht die Ost-Londoner Moschee, ein modernes, aber häßliches Gebäude aus hell- und dunkelbraunen Ziegelsteinen mit drei Türmchen. Ein Stück weiter – vorbei am Obdachlosenheim der Heilsarmee – führt die New Road hinunter zur Commercial Road. Schräg gegenüber wurde vor zehn Tagen der 17jährige Quaddas Ali von Rassisten zusammengeschlagen und liegt seitdem auf der Intensivstation.

Je weiter man nach Osten geht, desto schäbiger werden die Gebäude. Viele Häuser stehen leer. Von der Verlängerung der Commercial Road geht rechts die West India Docks Road ab. Das dreistöckige Eckhaus ist mit dicker Pappe verkleidet. Darauf sind Türen und Fenster aufgemalt. Die Straße führt direkt auf die Isle of Dogs, zur „Wall Street auf dem Wasser“, wie die Ex-Premierministerin Margaret Thatcher ihren Traum genannt hat – die gigantische Bürostadt „Canary Wharf“ mit dem Canada-Turm, dem größten Bürohaus Europas, als Kernstück. Der Traum ist inzwischen zur Jahrhundertpleite geworden. Die Konkursverwalter versuchen seit einem Jahr, eine für die Banken akzeptable Lösung zu finden.

Am Bahnhof Westferry steigen wir in die Docklands Light Railway, eine Hochbahn, die den Bürokomplex mit der Innenstadt verbindet. Die Fahrt durch die Hochhausschluchten ist atemberaubend. Auf beiden Seiten ragen die Glasfronten hoch auf und spiegeln sich gegenseitig, während in der Mitte die rot-blaue Schnellbahn die Spiegelbilder durchkreuzt. Ab und zu taucht zwischen den Wolkenkratzern ein Hafenbecken auf, das von modernen Einfamilienhäusern mit eigenem Bootssteg gesäumt ist. Canary Wharf hat seinen eigenen Bahnhof. Der Eingang zum Canada-Turm liegt direkt am Bahnsteig. Freilich kann man das Gebäude nur mit besonderer Genehmigung betreten, die Sicherheitsvorkehrungen für das Symbol des Thatcherismus sind streng.

Wir steigen an der Station South Quay aus. Hier liegt das Docklands-Informationszentrum, wo die Errungenschaften der Docklands mit Broschüren, Videos und einer Ausstellung angepriesen werden: 16.100 neue Häuser, Hausbesitz von 5 auf 44 Prozent gesteigert, 41.000 neue Jobs, Bevölkerungswachstum von 56 Prozent und so weiter. Die Werbung ist notwendig: An jedem Bürohaus auf Marsh Wall, der Ost-West- Verbindungsstraße am südlichen Ende des Geschäftsviertels, hängen große Schilder: „Zu vermieten“. Trotz der überaus günstigen Mietangebote stehen Tausende von Büros leer. Schräg gegenüber vom Bahnhof führt eine schmale Treppe nach unten. Dort beginnt übergangslos eine andere Welt: Millwall.

Millwall ist seit zehn Tagen der Schandfleck der Nation. Bei einer Nachwahl zum Gemeinderat des Ost-Londoner Bezirks Tower Hamlets gewann hier mit Derek Beackon zum ersten Mal ein Kandidat der rechtsradikalen Minipartei „British National Party“ (BNP) einen Sitz, per Direktmandat, und zerstörte so den britischen Mythos, daß Rechtsextremismus ein auf das europäische Festland beschränktes Problem sei. Beackon, ein 47jähriger arbeitsloser Kraftfahrer, tritt für die „hundertprozentige Rückführung aller Ausländer“ ein, ißt nur „normale englische Gerichte“ und glaubt nicht, daß in Nazi-Deutschland „irgend jemand absichtlich ausgelöscht“ worden sei. Beackon ist ein Faschist. Sind es seine WählerInnen in Millwall auch?

Cuba Street ist die Grenze zwischen Geschäftswelt und Arbeitslosigkeit, zwischen Arm und Reich. Auf der südlichen Straßenseite sind nur noch zwei Häuser bewohnt, der Rest steht leer und ist bereits verrottet. Die Rückseite des Bürohauses auf der nördlichen Straßenseite ist verbarrikadiert, Fenster und Türen sind mit Gittern gesichert. „Es ist, als ob du einem Ölgötzen ständig in den Arsch guckst“, sagt die siebzigjährige Helen Winsbury, die seit fünfzig Jahren auf der Isle of Dogs, der Hundeinsel, lebt. Millwall liegt im Themsebogen und wird auf drei Seiten vom Fluß begrenzt. Die Büroklötze im Norden schneiden das Viertel vom Rest Ost-Londons ab.

„Nach dem Ersten Weltkrieg war das Viertel als linksradikal verschrien“, sagt Helen Winsbury. „Während im Eastend die Arbeiter und Arbeiterinnen auf viele kleine Fabriken verstreut waren, arbeiteten hier die Männer in Großfabriken und in den Docks. Zum Klassenbewußtsein kam noch eine gehörige Portion Lokalpatriotismus.“

Seit dem Mittelalter haben sich AusländerInnen im Eastend niedergelassen. Die Isle of Dogs ist jedoch erst nach dem Bau der Millwall Docks Mitte des vergangenen Jahrhunderts besiedelt worden. Seitdem wurden nicht nur die Sozialbauwohnungen, sondern auch die Jobs von Generation zu Generation praktisch vererbt. Seit 1988 hat der von den Liberalen kontrollierte Stadtrat von Tower Hamlets in Millwall ImmigrantInnen aus Bangladesch angesiedelt. Ihr Bevölkerungsanteil beträgt heute etwa 12 Prozent – im Gegensatz zu 60 Prozent in anderen Teilen des Eastend. Dennoch konnte Beackon die Angst der Leute ausnutzen: Die Arbeitslosigkeit liegt hier bei 25 Prozent, rund 26.000 Menschen stehen auf der Warteliste für eine Sozialwohnung.

„Ich bin Mitte Zwanzig“, sagt John, der sich mit Schwarzarbeiten über Wasser hält. „Ich wohne immer noch bei meinen Eltern, weil es einfach keine Wohnungen für junge Leute gibt. Wir leben zu sechst in einer Vierzimmerwohnung. Wenn mal eine Wohnung frei wird, gibt der Stadtrat sie an eine Familie aus Bangladesch.“ Die offiziellen Zahlen sprechen eine andere Sprache: Von 135 Wohnungen, die vom Stadtrat seit April in Millwall vergeben wurden, gingen nur 24 an asiatische Familien. Ob er seine Stimme Beackon gegeben hat, will John nicht sagen.

„Lokalpolitiker haben die Mär verbreitet, daß Immigranten Schuld am Wohnraummangel haben“, sagt Kenan Malik, ein Anti- Rassismus-Aktivist. „Und der moralisierende Ton der Anti-Nazis hat ein übriges getan. Die Anti-Nazis sind über die Insel hergefallen wie die Missionare im 19. Jahrhundert über Afrika, und sie haben den Einheimischen etwas vorgepredigt, als ob es sich um ungezogene Schulkinder handeln würde. Für viele Bewohner Millwalls war die Stimme für Beackon der gestreckte Mittelfinger für das politische Establishment – links wie rechts.“

David Ceserani, Direktor der Wiener Library, die Rassismus in Westeuropa untersucht, sagt: „Es ist widerlicher Humbug, wenn Tory-Politiker den Rassismus in Ost- London verurteilen. Schließlich haben sie die kulturellen Bedingungen für seine Blüte geschaffen. Sie haben das Britischsein mit der Hautfarbe verknüpft, sie haben Immigration und Immigranten als Problem gebrandmarkt. Es ist falsch und unproduktiv, die 1.500 Beackon-Wähler als Neonazis abzustempeln. Das würde den wahren Charakter des Rassismus in Großbritannien nur verschleiern.“ Und Matthew Huntbach, Mitglied der Liberalen Demokraten in Tower Hamlets, fügt hinzu: „Ein weißer Hausbesitzer, der sein Haus im Testament seinem weißen Sohn oder seiner weißen Tochter vermacht, obwohl eine obdachlose Familie aus Bangladesch es viel nötiger bräuchte, hat kein Recht, die Bewohner Millwalls als Rassisten zu beschimpfen. Wer es dennoch tut, ist ein Snob oder befürwortet ein Gesetz für die Reichen und ein anderes für die Armen.“

An der Manchester Road im Osten Millwalls liegt ein Viertel mit attraktiven und geräumigen Häusern aus rotem Backstein, die sich von den für Hafenarbeiter gebauten traditionellen grauen Granithäuschen stark abheben. „Über tausend Wohnungen stehen hier leer“, sagt der 19jährige Terry. „Die Yuppies trauen sich nicht so recht her. Unsereins muß dagegen in einem Kaninchenstall wohnen.“ Der arbeitslose Terry lebt nur einen Steinwurf entfernt bei seinen Eltern in der Kingfield Street. Die Wohnanlage ist so gebaut, daß den Bewohnern die Illusion bleibt, in einem Reihenhaus zu wohnen. Die Anlage erweckt den Eindruck von übereinandergestapelten Einfamilienhäusern: Jede Wohnung in dem vierstöckigen Silo erstreckt sich über zwei Stockwerke und hat eine eigene Haustür. Die oberen Wohnungen sind über eine Treppe an der Seite des Wohnblocks zu erreichen. Von dort führt ein Balkon zu den einzelnen Haustüren.

„Sie wollen jetzt mehr als eine Milliarde Pfund in Canary Wharf pumpen, damit das Ding nicht pleite geht“, sagt Terry. „Wir haben davon überhaupt nichts. Nicht ein Job ist für die Einheimischen dabei herausgesprungen.“ Der Canada-Turm mit seinem Blinklicht auf der Spitze ist von jedem Winkel Millwalls aus zu sehen. Er ist eine ständige Provokation, eine Verhöhnung für die EinwohnerInnen. Wie viele Stimmen der Turm Beackon eingebracht hat, weiß Pfarrer Nicholas Holtam nicht. „Aber wir müssen sicherstellen, daß die BNP ihren Einfluß in diesem Wahlkreis wieder verliert“, sagt er. „Und das muß im nächsten Mai bei den Kommunalwahlen passieren.“

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