: Das Gottmenschentum am Weißen Haus
Vor dem russischen Parlament sammeln sich die Jelzin-Gegner / Doch im Weißen Haus bröckelt der Widerstand: Den Abtrünnigen winkt ein neues Betätigungsfeld ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Singend zieht die Prozession ums Weiße Haus. Ihre Stimmen sind schwach und klagend – anklagend. Der Pope in vollem Ornat marschiert vorneweg und schwingt sein Weihgefäß. Er ist noch ganz jung. Hinter ihm ein Grüppchen von vierzig Leuten, jung und alt. Ikonen und Kerzen halten sie in ihren Händen. Die selbsternannte Leibgarde der versammelten Atheisten im Innern des Russischen Parlaments. Nun hat sich auch Gott auf ihre Seite geschlagen. Die „bogotschelowetschestwo“ – die Einheit der Welt mit dem Menschen und Gott – das Gottmenschentum – so ein neuer alter russischer Mythos der Überlegenheit ist Wahrheit geworden. Die unheilige Allianz zwischen Kirche und Altkommunisten geistert als beklemmender Spuk ums Parlament.
Aktivisten, die die Untätigkeit überwinden müssen, stellen eine Freiwilligentruppe auf, die die Verteidigung des Weißen Hauses mit der Waffe übernehmen sollen. „Dorogu!“ „Aus dem Weg!“ brüllt ein Zufallsbrigadier. Gewichtig, todernst führt er einen Trupp zum Sammelpunkt. Gefolgt vom „arbeitenden Wladimir“, eine altkommunistische Organisation aus der hundert Kilometer östlich Moskaus gelegenen altrussischen Stadt. Ganze acht Männiken stellt der arbeitssame Wladimir. Was eine enthusiastische Rentnerin nicht davon abhält, die Helden überschwenglich zu begrüßen: „Molodzej!“ – „Kerle“!
Ein trauriger herzzerreißender Surrealismus beherrscht die Regie. Hier haben sich Menschen versammelt, die seit Jahrzehnten ihre Unterdrücker lieben und nicht mehr anders können. Unter antisemitischen Propagandafetzen an der Wand wird über die Herkunft der Russen diskutiert ... Auch sie sollen vom indischen Subkontinent stammen ... Über allem tönt die Übertragung der Debatte des Volksdeputiertenkongresses aus dem Innern. Der Vorsitzende des Nationalitätenausschusses Abdulatipow spricht gerade über sein „Anderssein“. Den Brief einer Bürgerin wolle er erhalten haben. Darin schriebe sie, es gebe in Rußland nur noch zwei echte Russen, Chasbulatow und Abdulatipow! Adulatipow stammt aus Dagestan und Chasbulatow aus Tschetschenien.
Kreidebleich, unaufhörlich gähnend folgt Chasbulatow den Ausführungen. Kaum zu einem Lächeln reichen die Kräfte. Nicht einmal zu einem Wutausbruch, als der amtlich bestallte Transvestit, Verfassungsgerichtschef, Walerij Sorkin, überraschend zu einem Kompromiß mit Jelzin auffordert. Keiner weiß, auf welcher Seite Sorkin gerade steht. So schnell wie er wechselt keiner seine Kleider.
Diesem Strip wollte Generalmajor Ruzkoi in seiner Funktion als Präsident ohne Reich nicht beiwohnen. Unruhig rang er mit seinen Händen, bis er im Séparée neben der Präsidiumsbühne verschwand. Er weiß nicht mehr, wie ihm geschieht. Wohl ahnt er, daß er bald allein dastehen wird. Es fehlt ihm die Eigenschaft, seine Farbe zu wechseln. Schließlich war er Soldat. Bis zum bitteren Ende will er ausharren. Sein politischer Souffleur und Kanzleichef, der ihm den ganzen Unsinn eingebrockt haben soll, ward seit kurzem nicht mehr gesehen. Er schaut sich wohl schon nach einem wärmeren Plätzchen um, wenn möglich auf der anderen Seite des Apparates. Und wenn sich gar nichts machen läßt eben auf der anderen Seite des Globus – in Rio. Dahin wollte er nach dem letzten Putsch, erzählt man sich.
Nach und nach verflüchtigt sich der Widerstand der aufrechten Demokraten wie das Büffet im Weißen Haus. Außer Journalisten und freundlichen Büffetdamen hält es keinen mehr im Innern. Der Präsident hat schließlich jedem Überläufer Weiterbeschäftigung versprochen. Zurück bleiben nur noch die Opfer. Bedauernswerte Barrikadenbauer mit ihrem Barrikadier Rutzkoi. Selbst Chasbulatow könnte am Ende noch ein Geheimtürchen finden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen