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Gepriesener Gegner des Staatsadels

Pierre Bourdieu, Kenner der „vierten Klasse“, verteidigt seine vergleichende Soziologie in Göttingen  ■ Von Thomas Nagel

Die letzten beiden Knöpfe seines Hemdes sind geöffnet, und der dunkelgraue Anzug, den er trägt, wirkt lediglich wie ein Zugeständnis an die Veranstaltung. Der Meister der Lebensstilanalyse verwendet nicht viel Sorgfalt auf sein Äußeres. Auf den ersten Blick hat er ein wenig Ähnlichkeit mit Eddie Constantine, bloß nicht so viele Falten. Genauso wie der französische Filmstar pflegt auch Pierre Bourdieu siegreich aus seinen (akademischen) Schlachten hervorzugehen. Erst letzte Woche erhielt er als erster Soziologe Frankreichs die Médaille d'or des Centre National Recherche Scientifique (CNRS), die höchste Wissenschaftsauszeichnung des Landes, die bisher meist Naturwissenschaftlern vorbehalten blieb. Sein Buch „La misère du monde“ – eine Sozialreportage über die „vierte Klasse“ in Frankreich, die Arbeitslosen, Obdachlosen und Drogenabhängigen – erreicht momentan Auflagen wie hierzulande nur die Bücher von Konsalik oder Simmel.

Nach Göttingen war der Professor des Collèges de France (Paris) gekommen, weil die Mission Historique Francaise in Göttingen, genauer gesagt drei hier forschende französische Historiker, von seinem Renommee profitieren wollten. Die Mission Historique wird in ihrer finanziellen Ausstattung eher stiefmütterlich behandelt, und Bourdieu setzte sich schon immer für den systematischen Austausch von ausländischen Wissenschaftlern ein. So setzte man sich nun zusammen im Max-Planck- Institut für Geschichte.

Bourdieu, mit 63 Jahren längst der Wissenschaftspapst, der zu sein er nicht vorgibt, sitzt bescheiden zwischen seinen deutschen und französischen Kollegen. Die exponierte Stellung am Rednerpult nimmt er nicht ein, die Freude, auch mal im Ausland zu sprechen, wirkt echt. Wenn andere Wissenschaftler von „Demokratisierung“ oder „sozialer Mobilität“ sprechen, weist er nach, daß sich lediglich Machtkonstellationen und Herrschaftseffekte verändert haben. „Pour une histoire comparée des stratégies de réproduction“ lautete das Thema des Vortrags. Der Soziologe Franz Schultheis paraphrasierte den Vortrag auf deutsch.

Anstatt empirisch den modernen Lebensstil zu erforschen, wie in den „Feinen Unterschieden“, seinem wohl bekanntesten Buch hierzulande, versuchte sich Bourdieu in der historischen Analyse. Über die einzelnen geschichtlichen Epochen hinweg wollte Bourdieu die Frage nach Dauer und Fortdauer von Herrschaft in der Gesellschaft beantworten. Prompt wurde er von einigen der zahlreich anwesenden Historiker wegen seiner groben Periodisierung kritisiert. Bourdieu unternahm nämlich eine Epocheneinteilung zwischen der „vorkapitalistischen“ Gesellschaft ohne Staat und Markt, und der „kapitalistischen“. In der vorkapitalistischen Welt vollziehe sich wegen des geringeren Institutionalisierungsgrades die Reproduktion gesellschaftlicher Macht hauptsächlich in der Familie. Durch Fruchtbarkeits- und Erbschaftsstrategien werde das ökonomische und kulturelle Kapital der Familie zusammengehalten und vererbt.

In der kapitalistischen Welt hingegen bestehe ein wesentlicher Wandel in der Institutionalisierung der sozialen Welt. Selbstverständlich spiele familiäre Herkunft nach wie vor eine große Rolle, Bourdieu wäre sicher der letzte, der das bestreiten würde. Doch seiner Meinung nach vollzieht sich heutzutage die Reproduktion der sozialen Welt und somit der herrschenden Verhältnisse nicht mehr allein in der Familie, sondern in starkem Maße über das Bildungssystem. Der Staat monopolisiert die Zugangschancen zu den Institutionen, indem er über das Erziehungssystem Bildungstitel gewährt oder verweigert.

Pierre Bourdieu konnte sein Theorem nur in Grundzügen erläutern, und das Buch, auf dem sein Vortrag beruhte, war wohl den wenigsten bekannt. In „Noblesse d'état“ („Staatsadel“) beschreibt er, wie in Frankreich durch ein elitäres Bildungswesen ein „neuer Adel“ entstanden ist. Anhand von empirischen Daten kann der Bildungssoziologe nachweisen, daß die „Grand Écoles“ eine politische Kaste, das heißt eine höhere Beamtenschaft produzieren. Das Schul- und Hochschulsystem stellt Differenzen zwischen den sozialen Schichten her und macht somit die Übertragung der Macht an die Nachfolger des eigenen Standes möglich. Von „Chancengleichheit“ oder „Demokratisierung“ des Bildungswesens kann also keine Rede sein. Sicher behandelt „Noblesse d'état“ – die deutsche Übersetzung wird im Herbst 1994 erscheinen – ein französisches Problem. Aber es könnte die Frage anregen, durch welche Institutionen sich die Machteliten in der Bundesrepublik konstituieren und welche Folgen die anstehenden Bildungsreformen in diesem Lande haben.

Zu einer „moralischen Autorität im öffentlichen Leben Frankreichs“ sei Bourdieu geworden, heißt es in der Begründung für die Preisverleihung der CNRS. Denn neben seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk meldete sich der Soziologe vom Collège de France auch in konkreten politischen Fragen zu Wort. 1991 sprach er sich mit anderen Wissenschaftlern gegen den Golfkrieg aus und mußte die Erfahrung machen, wie die Presse dieses Statement unterschlug oder durch Texte für den Krieg ausbalancierte. Aus diesem Grunde hält Bourdieu es für wichtig, daß sich die Intellektuellen autonome Medien verschaffen. Durch einen internationalen Austausch in diesen Medien könnten die Intellektuellen auch ihre „fortschrittlichen Kämpfe“ gegen die neue Rechte führen, die sich schon längst international vernetzt habe. Pierre Bourdieu leistet jetzt selber einen Beitrag dazu: seine Zeitschrift Liber wird erstmals auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober auf deutsch erscheinen. Liber soll ein Instrument sein, um dem Neokonservatismus gezielt entgegenzusteuern.

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