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Nach 150 Jahren fällt die Schranke Abitur

■ Durch ein rot-grünes Reformmodell kann seit 1989 auch ohne Abitur studiert werden, doch kaum einer weiß davon / An der Technischen Universität nutzen vornehmlich Erzieherinnen diese Chance

In Bogota mit Straßenkindern zu arbeiten? – Vor einigen Jahren hätte Ute Stübel davon geträumt. Die 28jährige war mit „absolutem Idealismus“ nach der Ausbildung zur staatlich geprüften Erzieherin in ihren Beruf gegangen. Wenige Jahre haben ihr den Job verleidet. „Alle sind überlastet“, meint sie, „Erzieherinnen müssen Kindern von früh bis abends die Familie ersetzen.“ Nun aber verabschiedet sich Ute Stübel mit einem Auslandspraktikum an der im kolumbianischen Norden gelegenen Universität von Santa Marta von ihrem Beruf.

Den Kontakt nach Kolumbien bekam die Erzieherin über die Universität – obwohl sie „nur“ einen Realschulabschluß vorweisen konnte. Seit Sommer 1991 ist es in Berlin möglich, ohne Abitur ein Universitätsstudium aufzunehmen. Kaum einer weiß davon. Aber die rot-grüne Koalition senkte 1989 die eherne Zutrittsschwelle zu den Hochschulen, das Abitur. Nach Paragraph 11 des Berliner Hochschulgesetzes darf studieren, wer einen Realschulabschluß und eine mindestens vierjährige Prxis in einem einschlägigen Beruf aufweisen kann. Bei den Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften der TU steuern inzwischen die ersten hundert ohne Allgemeine Hochschulreife auf das Sozialpädagogik-Diplom oder den Magister Artium der Erziehungswissenschaft zu.

Bei den Erziehungswissenschaftlern betrachtet man „den 11er“ als einen „Beitrag zur sozialen Öffnung der Universität“. Mit diesen Worten werben die Professoren Karcher, Overwien und Walter für das Studium ohne Abitur. Studienanfängerinnen bekommen von ihnen eine intensive Beratung in zwei Probesemestern geboten. Besondere Brücken- und Orientierungskurse sollen kontinuierlich ins Studium einführen. Endgültig immatrikuliert wird erst nach einem Jahr. Ein Prüfungs- und Beratungsgespräch entscheidet darüber. Aber dieser letzte Test mißlingt nur in den wenigsten Fällen. „Es trifft einfach nicht zu“, weiß Professor Hellmuth Walter, „daß die Leute den Studienanforderungen nicht gewachsen sind.“

Das neue Berliner Studienmodell hebt eine vor 150 Jahren gleichfalls in der preußischen Metropole installierte soziale Schranke auf, das Abitur als Eintrittskarte zum Studium. 1834 waren die Eingangsprüfungen für Universitäten abgeschafft worden. Gleichzeitig verschärfte Preußen, und mit ihm die anderen deutschen Staaten, das Curriculum seiner Gymnasien. Mit der Abgrenzung des Gymnasiums zu anderen höheren Schulen öffnete sich eine Bildungskluft im Lande. Das Abitur wurde zum Garant für soziale Chancen. Es vermittelte den Zugang zu den staatlichen Berufen wie Lehrer, Verwaltungsbeamter, Professor oder Arzt.

„Ich bin ganz schön zufrieden, daß ich rauskomme aus dem Sozialarbeiterberufsfeld.“ Für Ute Ströbel erweiterte sich die Lebensperspektive. Die Uni ist für sie ein Forum von Möglichkeiten. Sie kombinierte in ihrem Magisterstudiengang die Erziehungswissenschaft mit einem Auslands- und Projektstudium Spanisch. Dazu gehörte inzwischen ein Intensivsprachkurs in Venezuela. Vor allem aber zählt für Ute Ströbel, „daß ich wieder etwas mit dem eigenen Geist anfangen konnte. Im Beruf war ich total abgestumpft.“ Heute ist sie eine der rund 120 abiturlosen StudentInnen an der TU insgesamt. Je ein Maschinenbauer und Elektrotechniker sind unter anderen dabei, Verkehrswesen studieren immerhin fünf. Das Gros von ihnen kommt aber aus dem Erzieherinnenberuf. Hauptmotiv für die Studierenden – zu 90 Prozent Frauen – ist, aus ihrem Streßjob herauszukommen. „Die erfahren zum ersten Mal, daß sie in nicht- autoritären Strukturen ihren Interessen nachgehen können“, schätzt Professor Walter die Motivation der Studienanfängerinnen ein. Und die ist hoch.

„Wenn ich mit Leuten von der 11-Gruppe was mache“, erzählt Ute Stübel, „dann klappt das einfach.“ Bei ihren meist jüngeren KommilitonInnen, die auf klassischem Wege an die Universität kamen, seien dagegen „mehr Hänger dabei“. Die StudentInnen mit Berufserfahrung seien reifer; ihre Disziplin sei zwar nicht höher, aber sie hätten mehr Verantwortungsgefühl, meint Stübel. Den wissenschaftlichen Nachweis dafür versucht der Psychologe Hellmuth Walter derzeit in einer Studie über die ersten 58 Studierenden ohne Abitur zu erbringen. Im Gegensatz zu Normalstudierenden gebe es bei denen kaum „motivational diffuse und niedrige Fähigkeitsprofile“.

Genau solche Formulierungen sind es, an denen sich die Frauen stoßen – anfangs jedenfalls. Mit Händen und Füßen habe sie sich gegen den Wissenschaftsjargon gewehrt, meint Ute Stübel. Das Hauptproblem der StudentInnen nach § 11 liegt aber nicht in den Wissensrückständen oder an der Motivation. Das Bafög und, damit verbunden, die Zeitfrage machen zu schaffen. Viele der Bewerberinnen sind nämlich schon über 30, und da gibt's kein staatliche Studienfinanzierung mehr. Also muß nebenher gejobt werden, was wichtige Zeit für Lesen und Studieren verbraucht. „Das Bafög ist hier völlig ungeeignet“, meint Hellmuth Walter. Und so wird für viele die gerade gefallene soziale Schranke Abitur durch eine andere ersetzt. Christian Füller

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