: „Kann Das da mal zur Seite!“
■ Der Staat, die Leute und die Behinderten. Anmerkungen zur Streitschrift: „Wann ist der Mensch ein Mensch?“
Folgt man den Beispielen und Thesen von Oliver Tolmein, so werden die deutschen Behinderten von rechtsradikalen Schlägern bedrängt, ihre Ansprüche vom Staat zunehmend zusammengekürzt, Richter und humangenetische Berater degradieren die Schwächsten der Schwachen zur quantité négligeable. Das alles vollzieht sich in kleinen, täglichen Schritten und, wie könnte es anders sein, filigran verästelt mit nazistischer „Euthanasie“-Erfahrung.
Verzweifelt der einzelne, nicht hinlänglich leistungsstarke Mensch an diesen Zuständen, dann dringen ihm die Sirenenklänge des Peter Singer und seiner publizistischen Weichmacher ins Ohr; dann umgarnen den Bedrängten ärztliche Helfer des „sanften Sterbens“, damit er sich „die Todesspritze setzen lassen“ und so einen gewissermaßen finalen Beitrag dazu leisten kann, „die Kostendämpfung im Gesundheitswesen auf Dauer wirkungsvoll durchzusetzen“. Die Frühgeborenen, die Gelähmten in Deutschland, die Verwirrten, Siechen und Sterbenden – von den „schwer- mehrfach Behinderten“ nicht zu reden –, sie alle wären verloren, gäbe es da nicht einen Hoffnungsschimmer: „die Behindertenbewegung“ und deren publizistisches Schwert Oliver Tolmein.
Der Rezensent kennt die geschilderten Erfahrungen nicht. Er kennt andere. So geht er mit seiner kräftig behinderten Tochter Karline mittlerweile lieber in Bayern als in Brandenburg spazieren; auch ist er angenehm überrascht, wenn sich polnische Wanderer beim Anstieg auf die Schneekoppe bekreuzigen, eine Fürbitte gen Himmel schicken, dann mit anpacken und Karline in ihrem wunderbaren, dreirädrigen Jogging-Rollstuhl („Special Need“, zu beziehen bei „Sport Promotion mood music“, Bad Soden) zum Gipfel fliegt.
Solche Ferienerlebnisse sind in Deutschland nicht zu haben. Das verklemmte, kommentarlose Weggucken gehört zur verbreiteten Norm, die Hilfsbereitschaft an jeder Bahnhofsunterführung auch. Die tägliche, vitale Selbstverständlichkeit im Zusammenleben mit Behinderten ist (noch) schwach entwickelt. Sie ist – Gott sei Dank, vielleicht – staatlich-organisatorisch bevormundet. Doch von gesellschaftlichen Zuständen spricht Tolmein nicht, sieht man einmal von „Renates Frauen-WG“ ab, die den Leser in die eher langweiligen vier Wände ethischer Tadellosigkeit führt. Im übrigen schimpft der Autor auf den Staat. Fixiert sich auf Ansprüche, verhärtet, betreibt im Grunde ÖTV-Politik dort, wo es um die Verflüssigung gesellschaftlicher und privater Aggregatzustände ginge.
Die „Euthanasie“-Morde im Nationalsozialismus spielen in dem Buch eine herausragende, plakative Rolle. Aber sie erklären sich auch als Folge hochgradig verstaatlichter, damit entgesellschaftlichter und entprivatisierter deutscher Krüppel- und Irrenfürsorge. Die Gleichgültigkeit der meisten Angehörigen, die stillschweigende Zustimmung breiter Kreise zu diesem Verbrechen – eine klammheimliche Zustimmung, die weit über die schon große Anhängerschaft der Nazis hinausreichte – ist das bedrückendste an dieser Erfahrung. Statt sich damit auseinanderzusetzen, erfindet Tolmein, weil es ihm so schön paßt, „zum Teil heftige Proteste von Eltern“, die zur zumindest vorläufigen Beendigung des Tötens im Jahr 1941 geführt hätten. Eine glatte Lüge. Die weitgehende Tabuisierung des Themas „Euthanasie“ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften begründete sich nicht in der Ehrfurcht vor den Opfern, wie unser Autor suggeriert, sondern im sorgfältig versiegelten Wissen unzähliger deutscher Familien, daß sie einen ihrer Angehörigen vor nicht allzu langer Zeit und durchaus nicht widerstrebend dem Programm staatlicher „Erlösung“ preisgegeben hatten. Es gibt gute Gründe, über „Euthanasie“ zu reden, und sei es anhand der Thesen eines Peter Singer.
Die Kehrtwende des Staates ist einfacher als die der Menschen. Heute sind die staatlichen Hilfen beachtlich: Sie reichen vom kostenlosen Fahrdienst in die Schule bis zur Einzelfallhilfe an zwei Nachmittagen pro Woche. Die Angebote sind so umfassend, wir können sie nicht ausnutzen. Wir wollen es auch nicht, da sie notwendigerweise in die Privatsphäre eingreifen. Wichtig ist, daß auf öffentliche Unterstützung zurückgegriffen werden kann. Sie erleichtert das Leben, ist materiell greifbare Antidiskriminierung.
Mit Behindertenfeinden hatte Karline in diesem Jahr nur einmal zu tun. Nicht im Krankenhaus, nicht in irgendeiner Amtsstube, wo Tolmein diese Art Mitbürger vorzugsweise antrifft, sondern gelegentlich einer Bahnfahrt. Köstlich! Wir saßen also, so wie in den Regionalzügen für Rollstuhlfahrer vorgesehen, auf der Plattform. Bis in Donaueschingen etwa 20 Radler den Wagen stürmten – stürmen wollten. „Kann Das da mal zur Seite!“ forderte der Oberbiker. „Nein!“ war die kurze Antwort. Doch irgendwie mußten die Radler nicht richtig gehört haben, denn plötzlich begannen sie, „Das da“ zur Seite zu räumen. Ein energischer Auftritt wurde erforderlich, und das kompromißlose Beharren darauf, daß mehr als fünf Fahrräder auf dieser Plattform nicht eingeladen würden. Ersparen wir uns den Rest. Fest steht: Bei geeigneter Versuchsanordnung lassen sich sanfte Touristen – subjektiv sozusagen ideelle Mitglieder von „Renates Frauen-WG“ – leicht in rotanlaufenden Mob verwandeln.
Um auf Tolmeins Buch zurückzukommen: Es ist richtig und nützlich, wenn er haarsträubende Gerichtsurteile dokumentiert, die Praxis der eugenisch indizierten Abtreibung beschreibt oder wenn er die Worte des Bochumer Medizinethikers Hans Martin Sass aufspießt: „Der Arzt ist schließlich Teil (...) eines Systems der solidarisch finanzierten Gesundheitsfürsorge.“ Daraus ergibt sich nach Sass „eine Verpflichtung“, in „Sonderfällen die Interessen der Lebensqualität des einzelnen Patienten mit diesem gemeinsam (sprich: den Angehörigen, G.A.) gegen die Aufrechterhaltung des Systems solidarischer Gesundheitsfürsorge (...) abzuwägen“. Den Begriff „Volksgemeinschaft“ ersetzt Sass schlicht durch den Begriff „Solidargemeinschaft der Versicherten“.
In der Fixierung auf den Staat und „das Ganze“ verschwindet bei Sass und ex negativo auch bei Oliver Tolmein jene Frage, um die es in der Debatte um den „Wert des Menschen“ bei uns zunächst einmal gehen müßte: Wie gehe ich, wie gehen wir mit Behinderung und Abweichung um? Götz Aly
Oliver Tolmein: „Wann ist der Mensch ein Mensch? Ethik auf Abwegen“. Carl Hanser Verlag, 188 Seiten, 29,80 DM
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