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Leben in Warteschlangen

Keinen Staat machen. Gedichte der Lettin Amanda Aizpuriete über das Gewicht der Welt und die Schwierigkeit, in ihr heimisch zu werden  ■ Von Michael Braun

Dichtung aus Lettland? Das war in Deutschland bis vor kurzem kaum mehr als ein Gerücht – ein Fall für Slawisten, Übersetzer und andere poesiebesessene Grenzgänger an der literarischen Peripherie. Das Land, das 600 Jahre lang in engster Verbindung zum deutschen Kulturraum stand und in dem einst Herder Volkslieder sammelte, war nach der Annexion durch Stalin gründlich vergessen worden. Auf der Landkarte der literarischen Moderne war Lettland nach 1945 nirgendwo zu finden. Selbst in Hans Magnus Enzensbergers legendärem „Museum der modernen Poesie“ (1960) ist kein einziger lettischer Dichter verzeichnet. Erst 1991 hat Manfred Peter Hein in seiner epochalen Anthologie „Auf der Karte Europas ein Fleck“ nachweisen können, daß auch die lettische Lyrik die „Weltsprache der modernen Poesie“ (Enzensberger) mit geprägt hat. Dem nimmermüden Vermittler Hein ist es auch zu verdanken, daß uns nun eine zeitgenössische lyrische Stimme aus Lettland erreicht, die an Klarheit und Intensität das meiste übertrifft, was aus den westeuropäischen Dichtermetropolen zu hören ist: die 1956 geborene Übersetzerin und Lyrikerin Amanda Aizpuriete. In Lettland ist Amanda Aizpuriete vor allem als glänzende Übersetzerin und Nachdichterin russischer, englischer und deutscher Autoren (Kafka, Rilke, Trakl, Bachmann) bekannt geworden. Die katastrophale ökonomische Situation Lettlands hat freie Autoren, die wie Aizpuriete aufs Übersetzen als Broterwerb angewiesen sind, in eine äußerst bedrohliche Lage gebracht. Im Unterschied zu ihren lettischen Dichterkollegen, die sich auch nach dem Ende der sowjetischen Okkupation mehrheitlich in der Rolle nationaler Präzeptoren gefallen, spricht Amanda Aizpuriete in ihren Gedichten von Erfahrungen, die sich ideologisch nicht instrumentalisieren lassen: Es sind dies Erfahrungen der existentiellen Fremdheit, der Randständigkeit, des Verstoßenseins: „Ich bin die Nichthergehörige, ja, gehör nicht her,/ dunkle Worte zu lautlosen Halsketten auffädelnd./ Wie ein Kind verirrt trinkend die Milch des Nebels/ in dieser Freiheit, der ich nicht zugehör.“

Nichts ist von dem nationalistischen Hochgefühl zu spüren, das die lettische Gesellschaft während ihres Aufbruchs in die Unabhängigkeit erfaßte; nichts liegt diesen Gedichten ferner als die Suche nach einer kollektiven oder gar „nationalen Identität“. In diesen Gedichten mit ihren „dunklen Worten“ spricht ein von Zweifeln und Ängsten zerrissenes Ich, das sich seiner gefährdeten Existenz vergewissert. Der erste Teil dieses verstörenden Gedichtbuches präsentiert eine Auswahl aus den drei Gedichtbänden, die Amanda Aizpuriete zwischen 1980 und 1990 in Lettland veröffentlicht hat. Diese frühen Gedichte mit ihrer schroffen Fügung der Verse und der Konzentration unheilverkündender Schlüsselworte wie „Nebel“, „Tod“ oder „Nachtschwärze“ erinnern ein wenig an die Lyrik ihres Übersetzers Manfred Peter Hein – an eine Schreibweise, die im Bann der sprachmagischen Dichtungstradition steht. Aber schon nach wenigen Gedichten wird erkennbar, daß sich Amanda Aizpuriete souverän von allen Vorbildern und traditionellen Topoi frei geschrieben hat. Denn sie arbeitet, ohne Hermetik, mit einfachen, kargen Benennungen und lakonischen Versen. Ihr lyrisches Sprechen über scheinbar „private Ereignisse“ macht die Trauer und Verzweiflung einer ganzen Generation sichtbar, die ihre Kindheit und Jugend unter dem Sowjetsystem verbringen mußte: „Mit meinem in Warteschlangen verbrachten Leben,/ der in Müdigkeit verbrachten Liebe/ find ich mich ab.../ Ich lege beiseite die alten, vergeblichen Mühen/ lebendig zu sein, sieh nur, in der Ecke schimmern sie billig/ wie im Museum die Rüstung, in der keine Leiche steckt.“ Erschreckend die absolute Niedergeschlagenheit und der fatalistische Blick dieser Lyrikerin, die sich trocken als „Hausfrau mit vier Kindern“ porträtiert, damit beschäftigt, mit literarischen Übersetzungen das Existenzminimum ihrer Familie zu sichern. Hoffnungslosigkeit ist das Prinzip dieser Gedichte; weder Gegenwart noch Zukunft bergen irgendwelche Verheißungen. Viele Gedichtzeilen lesen sich wie Schicksalsformeln: „Das Leben neu beginnen – zu spät, Dunkelheit keimt/ in Muscheln und unseren Knochen.“ Im zweiten Teil des Bandes, der bislang unveröffentlichte Lyrik aus den Jahren 1990–1992 enthält, hat sich die Daseinsverzweiflung der Dichterin noch verschärft. Wenn in diesen Gedichten – selten genug – Momente von Glück oder Emphase aufblitzen, dann sind sie in den poetischen Widmungen der Dichterin an ihre Kinder zu finden. Aber selbst die direkte Ansprache an das „Töchterchen Grünaug“ gerät zum melancholischen Bekenntnis: „Was wird dir bleiben von mir,/ Töchterchen Grünaug?/ Die Trübnis – ihr könnt sie euch/ teilen beide... Wenig wird dir bleiben von mir,/ grünäugiger Spätling,/ Einige Blätter Papier,/ schwierig zu lesen.“

Amanda Aizpuriete schreibt eine Poesie des Alltags, wie es sie in den letzten zwei Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat: eine Poesie, die mit genauem Blick das menschliche Dasein ausleuchtet, ohne sich mit metaphorischem oder mythologischem Dekor zu umgeben. Ich kann mir gut vorstellen, daß Amanda Aizpuriete in ihrer Heimat als Nestbeschmutzerin gilt, da sie so gar nicht in den Chor der lettischen Nationalisten einstimmen will. Mit ihren Versen ist kein Staat zu machen. Aber das zeichnet große Poesie ja aus, daß sie sich von rhetorischen Ritualisierungen der Politik nicht zur (Staats-)Räson bringen läßt: „Dies in Fetzen gehende Leben –/ selbst es umzuschneidern sinnlos./ Die Vogelscheuche soll Staat damit machen./ Aus Löchern Dunkelschimmer/ wie schwarzes Perlornat./ Wird auf die Fetzen der Geier fliegen/ oder zumindest der Wind?/ Oder muß ich mich selber packen selber vergraben/ im Garten, daß nicht Ratten danach scharrn?“

Amanda Aizpuriete: „Die Untiefen des Verrats“. Gedichte. Ausgewählt und übersetzt von Manfred Peter Hein. Rowohlt Verlag, 96 Seiten, 32 DM

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