Niemals auf Nummer Sicher

Amerika wird nicht alle Tage gezwungen, stolz auf eine afroamerikanische Frau zu sein. Doch Toni Morrison, die erste schwarze Nobelpreisträgerin für Literatur, will sich von diesem Erfolg nicht kaltstellen lassen  ■ Von Andrea Böhm

Wahrscheinlich interessieren sich die Mitglieder des Nobelpreis- Komitees nicht für Basketball. Folglich werden sie kaum registriert haben, daß, einen Tag bevor der Afroamerikanerin Toni Morrison der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, der Afroamerikaner Michael Jordan seinen Rücktritt vom aktiven Sport bekanntgab. Wozu man wissen muß, daß Michael Jordan nicht irgendein Basketballspieler ist, sondern eine Jahrhunderterscheinung, die auf dem Court keine Schwerkraft und im Werbegeschäft keine numerische Beschränkung kannte. Jordan war nicht nur Werbeträger, Goldmedaillengewinner und Ballgenie, sondern auch ein role model unter Afroamerikanern. Er verkörperte jenes Klischee, das gleichzeitig gesellschaftliche und ökonomische Realität für viele Schwarze ist: Sport ist neben Musik die einzige Aufstiegschance in dieser Gesellschaft.

24 Stunden nach dem Ende von Jordans Karriere bekommt Toni Morrison den Nobelpreis für Literatur. Um die richtige Perspektive zu bewahren, sei an dieser Stelle angemerkt: Die große Mehrheit der AmerikanerInnen wird sich auch in Zukunft weit mehr für die Spielergebnisse der „Chicago Bulls“ interessieren als für die Entwicklungen der amerikanischen Literatur (für alle LeserInnen, die den Sportteil dieser Zeitung nie anrühren: Jordan war der Starspieler der „Chicago Bulls“). Trotzdem ist dieser Nobelpreis eine kleine inneramerikanische Sensation. Dieses Land wird nicht alle Tage dazu gezwungen, auf eine schwarze Frau, eine Schriftstellerin, stolz zu sein.

Nun ist es keineswegs so, daß Morrison arm an Auszeichnungen wäre. Für ihren dritten Roman „Song of Solomon“ erhielt sie 1977 den „National Book Critics Circle Award“. Für ihr Buch „Beloved“ – die Dramatisierung des authentischen Falls der Afroamerikanerin Margaret Garner, die 1852 ihre zweijährige Tochter umbrachte, um ihr ein Leben als Sklavin zu ersparen – bekam sie 1988 die höchste publizistische Auszeichnung in den USA, den Pulitzer-Preis. Das erleichterte in ihrem Leben einiges, aber nicht das Schreiben. Die Reputation als Preisträgerin, erklärte sie vier Jahre später anläßlich der Veröffentlichung ihres jüngsten Romans „Jazz“, „interessiert mich überhaupt nicht, wenn es ums Schreiben geht. In Wirklichkeit wird man jedesmal aufs neue mit weißem Papier konfrontiert. Etiketten und Auszeichnungen helfen da nicht viel.“

Vorurteil und Stolz

Geboren 1931 in Lorain im Bundesstaat Ohio (als Tochter eines Stahlarbeiters), aufgewachsen in einer rassistischen und rassisch segregierten Gesellschaft, besuchte sie als erste Frau ihrer Familie ein College. Mit einem Universitätsabschluß in Englisch in der Tasche war Toni Morrison Anfang der sechziger Jahre eine Ausnahmeerscheinung. Wie riskant es war, auf gleiche Bildungschancen zu pochen, wurde allen Schwarzen in diesen Zeiten immer wieder vor Augen geführt. Am dramatischsten vielleicht 1962, als der damalige Präsident John F. Kennedy 20.000 Bundessoldaten in den Süden entsandte, um die körperliche Unversehrtheit des ersten schwarzen Studenten, James Meredith, an der „University of Mississippi“ zu garantieren. Morrison selbst wuchs mit den Erzählungen ihrer Großeltern und Eltern auf, die nach oft lebensgefährlichen Konfrontationen mit weißen Rassisten in Alabama und Georgia in den Norden gezogen waren. Den Vorurteilen der Gesellschaft setzten die Eltern die vorbehaltlose Rückendeckung für ihre Kinder entgegen. „Mein Vater“, sagt Morrison, „hielt es immer für selbstverständlich, daß ich alles erreichen konnte; meine Mutter und Großmutter ließen niemals Zerbrechlichkeit oder Verwundbarkeit zum Vorschein kommen.“

Der Nobelpreis ist der bisherige Höhepunkt einer schriftstellerischen Karriere, die Ende der fünfziger Jahre an der „Howard University“ in Washington D.C. begann. Toni Morrison, Dozentin für Englisch, (noch) verheiratet, zwei Kinder, fing an zu schreiben. Zum Zeitvertreib. „Privat, meist nachts wie die meisten Frauen mit Familie, die ihre freien Stunden für kreative Projekte hergeben müssen.“ Aus dem Zeitvertreib entstand eine „kleine Geschichte“, aus der „kleinen Geschichte“ ein Manuskript mit dem Titel „The Bluest Eyes“. Strahlend blaue Augen, das Symbol von Weißheit und Unantastbarkeit, wünscht sich Pecola, die Hauptfigur dieses Romans, Opfer sowohl des Rassismus der weißen Gesellschaft als auch des sexuellen Mißbrauchs durch ihre eigene Familie. Sie habe nie „auf Nummer Sicher“ oder „für die Galerie“ geschrieben, erklärte Morrison vor kurzem. Das gilt nicht nur für ihren literarischen Stil, sondern auch für die Auswahl der Themen und Figuren. Der „magische Realismus“, den ihr Kritiker attestieren, würde es gar nicht gestatten, Tabuthemen auszusparen. Dazu gehört in ihrer Prosa unter anderem der Sexismus von schwarzen Männern gegenüber schwarzen Frauen; dazu gehört in ihren politischen Essays der Rassismus der weißen Frauenbewegung.

Reading feminist

„The Bluest Eyes“ war nicht nur Ausgangspunkt des Aufstiegs einer schwarzen Autorin. Anfang der siebziger Jahre erschienen auch Alice Walkers „The Third Life Of Grange Copeland“ und Maya Angelous „I Know Why The Caged Bird Sings“. In dieser Zeitspanne, so schreibt der afroamerikanische Literaturprofessor Henry Lous Gates Jr. In seiner Anthologie „Reading Black – Reading Feminist“, „rückten schwarze Autorinnen erstmals in den Vordergrund afroamerikanischer literarischer Kreativität“. Autorinnen wie Morrison, Walker und Angelou, deren literarische Rolle zuletzt gewürdigt wurde, als sie bei der Inaugurationsfeier Bill Clintons eines ihrer Gedichte las, haben jene literarische Bewegung auf den Weg gebracht, zu der heute junge Bestseller-Autorinnen wie Terry Mac Millan („Waiting To Exhale“) gehören, aber auch die Werke der literarischen Vorgängerinnen wie Zora Neale Hurston und Ann Petry gewürdigt werden – Schriftstellerinnen, die eines eint: Mit jedem weiteren Roman, Essay oder Gedichtband korrigieren sie einen Mißstand, den die schwarze Feministin Mary Helen Washington wie folgt beschreibt: daß alle zentralen Figuren afroamerikanischer Geschichte und Tradition per defintionem männlich sind – „ob es sich nun um den geflohenen Sklaven, den feurigen Redner, den politischen Aktivisten oder den Abolitionisten“ handelt.

Gleichzeitig, so fügt Henry Louis Gates Jr. hinzu, „repräsentieren die Werke schwarzer Schriftstellerinnen seit den siebziger Jahren Welten, in denen die Stereotypen der ,schwarzen Göttin‘ oder ,schwarzen Königin‘ sowie des ,schwarzen Kriegers oder Prinzen‘ des Black Arts Movement als ebenso schädlich abgelehnt wurden wie die ,Sambo‘- oder ,Mammy‘-Stereotypen in der Tradition der Sklavenplantagen.“

Der Beitrag Toni Morrisons zu dieser literarischen Bewegung kann kaum überschätzt werden: Sie hat selbst sechs Romane geschrieben; sie war von Beginn ihrer akademischen Karriere an eine kritische Analytikerin sowohl der Frauenbewegung als auch des black movement; und sie hat in ihren über zwanzig Jahren als Lektorin beim „Random House“-Verlag andere maßgebliche afroameriknaische Autorinnen zur Veröffentlichung verholfen, darunter Toni Cade Bambara, Angela Davis oder Gloria Naylor. „Ihre Produktivität, ihre Vision und ihr Handwerk“, schreibt Gates, „haben das Tempo dieser Bewegung bestimmt.“

Toni Morrison sitzt am Ende all dieser politischen Analysen und Rezensionen, am Ende der Lobreden und Preisverleihungen wieder vor einem weißen Stück Papier. „Mein Job ist es“, sagt sie, „mich von niemandem vereinnahmen zu lassen. Nicht vom Verlag, nicht von der Kritikerszene, nicht von Medien, von niemandem. Ich werde niemandem gerecht, weder der Frauenbewegung noch dem black movement, noch den Romanen, wenn ich mich einer Linie unterwerfe. Ich will besser schreiben. Besser denken. Ich weiß gar nicht, wie es ist, das nicht zu wollen.“

Für die nächsten paar Wochen allerdings genießt die 62jährige Schriftstellerin und Professorin an der Univerität Princeton das „Etikett“ der Nobelpreisträgerin in vollen Zügen. Sie sei „unerträglich glücklich“, erklärte sie Journalisten und fügte dann fast ungläubig hinzu: „Ich bin die erste Afroamerikanerin, die den Literaturnobelpreis bekommen hat. Das ist wirklich erstaunlich.“