: Die Nacht der 500 Koofmichs
■ Aus aller Welt: Sechs Stunden lang Werbefilme des ausgehenden Jahrhunderts im Europa / Ein Selbstversuch
Zuletzt lachte kaum noch jemand. Keiner pfiff mehr bei dem ganz besonders scheußlichen 483. Werbefilm, und die Luftballonschmeißer hatten zusammen mit den Seifenblasenpustern schon vor Stunden das Feld geräumt. Kurz vor sieben Uhr morgens trieb die etwa 100 Übriggebliebenen in erste Linie ihr sportlicher Ehrgeiz dazu, auch noch beim letzten Spot die Augen offenzuhalten.
In den ersten beiden Stunden war es dagegen hoch hergegangen. Wir etwa 400 Sadomasos wurden mit kleinen Werbegeschenken in Stimmung gebracht sowie von den Seitengängen mit Speiseeis beworfen; so klatschten, lachten oder pfiffen wir bei den ersten 100 Spots noch recht ausgiebig.
Aber natürlich hatte auch der gierigste Bildersüchtige nach einiger Zeit seine Überdosis intus; schon die etwa zwei Stunden langen Cannesrollen haben ja diesen Overload-Effekt, und auch wenn in Frankreich diese „Nächte der Reklamefresser“ sich zu sehr erfolgreichen Kultspektakeln entwickelt haben, ist zu fragen, ob Jean Marie Boursicot, der fanatische Sammler von Werbespots, seine Jahresernte nicht auch etwas humaner präsentieren könnte.
Denn was er in Werbeagenturen auf der ganzen Welt entdeckte, in Filmdosen wegschleppte und zuhause archivierte, ist nicht weniger als eine neue, kleinere Version der Cinématheque Française. Genau wie deren Gründer Henri Langois in den 30er Jahren begann, besessen Filme zu sammeln (das Kino hatte damals in der Hierarchie der Künste etwa den gleichen Stellenwert wie heute die Werbespots), versteht sich 50 Jahre später Boursicot als Bewahrer der Werbekunst.
Die Parallelen sind frappierend: beide schufen zum Beispiel erst so etwas wie ein historisches Bewußtsein für die Objekte ihrer Sammlerbegierde, beide suchten und suchen ihr Material quasi aus den Mülleimern der Produzenten, und beide sind bekannt für ihren etwas abseitigen Humor.
So ist Boursicots diesjähriges Programm wie ein ungeordneter Berg von Bildern, Botschaften und Verführungsstrategien. Ein frivoler Stummfilm aus dem Jahre 1905 (bei dem man beim besten Willen nicht mehr erkennen kann, wofür da überhaupt geworben wurde), steht neben den ziemlich enttäuschenden fünf Werbespots, die David Lynch für Calvin Klein und Yves Saint Laurent gedreht hat.
Neben skurrilen Einzelwerken wie etwa einem deutschen Machwerk von 1984 für eine LP mit Ernst Mosch oder einer zwanzig Jahre alten Omo-Reklame aus Algerien zeigt Boursicot ganze Retrospektiven, Werkschauen und Länderportraits: Die etwa 20 Spots aus Ägypten zeichnen sich etwa durch eine hysterische Sangeslust aus, während in den koreanischen Filmchen adrette junge Models immer sehr ordentlich in die Kamera blicken.
Bei der Retrospektive der Werbung für Levy's Jeans sieht man, daß sie schon 1971 nach der heute allgegenwärtigen Masche gestrickt wurde. Die Nike- Werkschau belegt, daß ausgerechnet diese Schuhfirma schon seit Jahren die Avantgarde der Reklamefilme anführt; und die Beispiele aus Indonesien, Neu- Kaledonien und Polen beweisen, daß Nescafé, Waschpulver und Präservative überall auf der Welt mit den gleichen Tricks unters Volk gebracht werden.
Daß Boursicot seine Werbelawine nicht ganz so zufällig zusammengeschnitten hat, wie es oft schien, zeigte sich bei einer sehr ironischen Zusammenstellung: Da folgte ein sowjetischer Propagandafilm aus den siebziger Jahren direkt auf einen luxuriös ausgestatteten Spot à la Ninotschka, in dem die Russen sehr malerisch der Dekadenz des Westens erliegen. Wilfried Hippen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen