: Was ist eine Minderheit?
Europarat erschöpft sich in pompösen Signalen ■ Aus Wien Robert Misik
Seit dem Wiener Kongreß der Jahre 1814/15 sehen die Wiener ihre Stadt am liebsten als Begegnungsstätte gewählter und gekrönter Häupter. Da nimmt es nicht wunder, daß die Aufgeregtheit letzte Woche groß war: Zum Europaratsgipfel kamen so viele Staats- und Regierungschefs nach Wien wie seit dem legendären Kongreß nicht mehr. Helmut Kohl war gekommen, Václav Havel, Vladimir Mečiar, Felipe Gonzáles, Gro Halem Brundland, Talsu Ciller, Franjo Tudjman und, als Pate des Euro-Clans: François Mitterrand, auf dessen Idee dieses erste Gipfeltreffen in der 44jährigen Geschichte des Europarates zurückgeht.
Grund zur Euphorie hatten die Österreicher tatsächlich: „Wir sind wieder auf der Landkarte“, formulierte ein hoher Regierungsbeamter. In der Ära Waldheim (1986 bis 1992) hatte die internationale Politik einen großen Bogen um die österreichische Hauptstadt gemacht. Insofern war der Gipfel auch ein mit Pomp gefeierter Wiedereintritt in die internationale Gemeinschaft.
Diese Freude konnte durch die Tatsache, daß auf diesem Gipfel keine Sensationen zu erwarten waren, kaum getrübt werden. Kommentatoren plädierten schon im Vorfeld für Nüchternheit: „Der Sinn dieses Gipfels liegt im wesentlichen darin, daß er stattfindet“, befand der Wiener Kurier. Die Verhandlungen bei den Hauptthemen – Menschenrechte, Minderheitenschutz, die Einbindung der ost- und mitteleuropäischen Länder – schritten eher zäh voran. Die Veranstalter hatten die Latte ohnehin tief gelegt. Er sei schon zufrieden, wenn „von Wien ein Signal ausgeht“, urteilte Österreichs Außenminister Alois Mock im Vorfeld.
Gestritten wurde wieder einmal über die Definition des Begriffes „Minderheit“. Deutschland blieb stur: Nur Staatsbürger könnten als Minderheit anerkannt werden. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer (FDP), zählte Wenden, Sorben und Dänen zu den Minderheiten in Deutschland, nicht aber Gastarbeiter. Gastarbeitern, die länger in Deutschland blieben, stelle sich vielmehr die Frage der Staatsbürgerschaft.
Am Ende standen in der „Wiener Deklaration“ doch ein paar tragfähige Kompromiß-Erklärungen. So wurde das Ministerkomitee beauftragt, bis Mai 1994 eine Rahmenkonvention zum Schutz von Minderheiten auszuarbeiten, die erstmals Mindeststandards für alle Mitglieder des Europarats festlegt. In einem Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention soll darüber hinaus die individuelle Einklagbarkeit von kulturellen Rechten garantiert werden. Und der Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg soll funktionaler werden. Die Verfahren sollen gestrafft und so deutlich verkürzt werden – gegenwärtig dauert das Durchschnittsverfahren rund fünf Jahre.
Allen wohlfeilen Absichtserklärungen, allem Prunk zum Trotz – nicht alles war eitel Sonnenschein: Die sieben Beitrittswerber – Rußland, Lettland, Albanien, Ukraine, Weißrußland, Moldawien und Kroatien – hatten das dumpfe Gefühl, sie sollten als Schulbuben vorgeführt werden, denen die hehren Prinzipien der Demokratie erst eingebleut werden müssen, bevor sie in den Kreis der guten Europäer aufgenommen würden. Daß sie an einem Katzentisch abseits der großen Runde Platz nehmen mußten, verstärkte diesen Eindruck. Vor diesem Hintergrund ist auch die Erklärung gegen Rassismus und Fremdenhaß zu verstehen: Als billiges Signal an die Beitrittswerber muß der Europarats- Europäer auch vor der eigenen Tür kehren.
Darüber hinaus wurde von manchen Beobachtern kritisch angemerkt, Westeuropa versuche mit dem pompösen Zusammentreffen eine Handlungsfähigkeit vorzutäuschen, die – siehe Balkan – gar nicht vorhanden ist.
Ungetrübte Freude war nur einem Manne ins Gesicht geschrieben: Rumäniens Präsident Ion Illiescu. Er sonnte sich im Rampenlicht des Gipfels. Am ersten Gipfeltag war sein Land in den Kreis des Europarats aufgenommen worden. Schlechte Stimmung hingegen herrschte bei Griechenland und Beitrittswerber Albanien. Die beiden Delegationen sorgten für den Eklat des Gipfels: Tiranas Präsident Berisha war mit den griechischen Abgesandten aneinandergeraten – Athen hatte die Minderheitenpolitik des Nachbarn kritisiert.
Demonstrativ aufgeräumt und gut gelaunt gab sich François Mitterrand – bis er einen Blick in das bunte Boulevard-Blatt täglich alles warf. Dessen Herausgeber charakterisierte den Pariser mit den Worten: „Vielen gilt er als besonders gerissen, andere sehen ihn eher als bloßen Lügner mit bescheidener Intelligenz.“ Schließlich die Aufforderung: „Foutrez le camp, Monsieur le président!“, was frei übersetzt heißt: „Mach 'ne Fliege, Herr Präsident!“ Bundespräsident Klescil und Kanzler Vranitzky entschuldigten sich umgehend bei Mitterrand.
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