: Engelmacher allenthalben
■ TV-Priester und Household-Saints. Bericht vom Filmherbst in New York
Fünf hüftenschwingende, junge Männer, in nicht mehr als blütenweiße Unterhosen gehüllt, erregten in diesem Jahr zweifellos das meiste Aufsehen im Foyer von „Angelika's Filmcenter“. Und das ist eine Leistung für sich, denn die Szenen rund um den alljährlichen „Independent Feature Film Market“ (IFFM) erinnern ein wenig an die Aufbruchstimmung eines mittelstädtischen Karnevalsumzugs. Hippies, bunt bemalte Kinder, Transvestiten und ätherische Elfen verteilen liebevoll verpackte Donuts, Vitamintabletten, Rosen, vermeintliche Ecstasy-Pillen, Taschenspiegel und tonnenweise Flugblätter, um auf jeweils einen der etwa 400 präsentierten Filme, Videos oder „Works-in Progress“ aufmerksam zu machen. Doch je lustiger die Kleider, je ausgeklügelter die handgearbeiteten Werbegags, um so größer darf man in der Regel die nervliche Anspannung der sich dahinter versteckenden Filmemacher vermuten. Jeder Film wird nur einmal gezeigt, und wenn die „Zielgruppe“ dann nicht im Kino sitzt, lösen sich bestenfalls einige hundert Dollar Teilnahmegebühren in Luft auf. Schlimmstenfalls endet nach dem Abspann eine Karriere: Allein in New York City werden jährlich mehrere tausend Filmregisseure ausgebildet! Für viele der unabhängigen US- amerikanischen Filmemacher ist der IFFM die einzige Chance, ihre häufig mit Taschengeldern, Kreditkarten oder Erbschaften finanzierten Werke einem internationalen Spezialpublikum von Filmkäufern, Fernsehredakteuren, Verleihern und Festival-Vertretern zu zeigen. Filme wie Lizzie Bordens „Working Girls“, Jim Jarmuschs „Down by Law“ oder Todd Haynes „Poison“ zählen zu den berühmt gewordenen Entdeckungen des IFFM, und auf diesen Erfolgen werden die Hoffnungen auf märchenhafte Zukunftsträume gebaut. Filmförderungen und andere kulturelle „Puffer“ wie etwa das ZDF-„Kleines Fernsehspiel“ gibt es in den USA so gut wie gar nicht mehr, und so schwebt über dem IFFM eher eine gewisse Schicksalsschwere, als eine Festivalleichtigkeit. Aber darüber wird natürlich nicht geredet – das würde in New Yorker Filmkreisen mindestens so losermäßig wirken wie Zigarettenrauchen.
„Angelika's Filmcenter“ ist zwar eine ehemalige Reparaturwerkstatt für U-Bahnwaggons, aber die Kellersäle wirken wie der Archetyp eines Schachtelkinos. Eine Woche lang laufen von früh bis spät sechs Vorstellungen parallel und, als sei das nicht genug, finden uptwon zur gleichen Zeit auch noch das New York Film Festival und das Margret-Mead-Festival für ethnographische Filme statt. Das Schwarzlicht im Foyer des „Angelika's“ verstärkt den Verdacht, daß einige der zum New Yorker Filmherbst Angereisten nach einigen Tagen nur noch verwirrt und planlos von Vorstellung zu Vorstellung hetzen. Es erübrigt sich fast zu sagen, daß die sich dabei entwickelnde Hysterie ungerechte Verrisse und Begeisterung produziert. Aber das psychedelische Vielsehen hat auch einige Vorteile. Zum Beispiel springen einem Trends mit bemerkenswerter Schärfe ins Auge. In diesem Jahr waren es religiöse Obsessionen im allgemeinen, Katholizismus im besonderen. Engel treten zum Beispiel dermaßen häufig auf, daß man schon von einem Syndrom sprechen kann. Als Mentor dieser Mode muß Wim Wenders erwähnt werden, denn nach dem „Himmel über Berlin“ legte er mit „In weiter Ferne, so nah“ jetzt schon seinen zweiten Engelsfilm vor. Jane Campion präsentierte nach „An Angel at my Table“ ihrem gespannten Publikum nun das am Strand radschlagende, kleine Mädchen mit Engelsflügeln. US-Bürger lernen den kleinen „Piano“-Engel erst jetzt, nach der Premiere des Films auf dem New York Film Festival, kennen.
Das dritte Engelchen des Filmherbstes ist die pubertierende „Angie“ in Robert Youngs neuem Film „Roosters“. Die Familiengeschichte aus Arizona rankt sich zäh um einen bösen Vater, der die Seinen weniger liebt, als die Kampfhähne. Aus Kummer darüber springt sein stets inbrünstig betendes Töchterchen mit ihren Stoffflügeln in den Tod – der Film endet kurz vor dem Aufprall. Eine erwachsene Variante des Engels – ebenfalls mit Flügeln spielt die Frau zwischen zwei Männern in „The Bet“ von Adam Gillon; komplementär dazu glaubt in „Witness and Devil“ (von Sergio Vera) eine „Zeugin Jehovas“, ihr Verehrer sei kein normaler Macho, sondern der Teufel selbst.
Außerdem gab's auf dem IFFM noch eine Komödie über eine mißratene Bibelverfilmung und Dokumentationen über die Machenschaften von TV-Priestern. Ganz regulär und mit ziemlichem Erfolg läuft in New Yorker Kinos derzeit „Household Saints“ von Nancy Savoca. Der Film spielt im New Yorker Stadtteil Little Italy in den fünfziger und sechziger Jahren. Der barocke Katholizismus der Großmutter vererbt sich auf deren Enkelin, die zum Entsetzen ihrer Eltern nichts mit der Flower-power ihrer Altersgenossen zu tun haben will. Nur Beten und Gutestun interessiert sie, bevor sie als wurstwunderwirkende Heilige im Kloster entschläft.
Was es mit all diesen Glaubensfilmen und Klerikalgrotesken für eine Bewandtnis hat, ist sicher nicht ganz einfach zu beantworten.
Ein besorgter Experimentalfilmer meinte leicht alkoholisiert und zu vorgerückter Stunde, daß er zwar auch keine plausible Erklärung für das cineastisch nicht gerade spannende Engelssyndrom hätte, aber man würde doch den Zusammenhang mit dem weltweit religiösen Fanatismus sehen. Er würde sich ohnehin darüber wundern, daß die diversen ethnischen und religiösen Gruppen in New York noch vergleichsweise friedlich nebeneinander leben. „Dabei braucht man hier bloß einer Filmcrew mal kein Mittagessen zu servieren, dann sind abends alle schon kurz davor, die Pistole zu zücken.“ Demnach wären die unschuldigen Filmmädchen mit den Engelsflügeln die Bombe im Kinderwagen: Zeichen, die man ernst nehmen sollte? Dorothee Wenner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen