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Eine „Kapitulation des Rechtsstaates“

Verfolgung der DDR-Regierungskriminalität droht ein vorzeitiges Ende / Ermittlungen liegen bereits brach / Arbeit der AG Regierungskriminalität nur bis Frühjahr 1994 abgesichert  ■ Aus Berlin Dieter Rulff

Staatsanwalt Hermann Meyer fühlt sich, wenn er arbeitet, „am Puls der Geschichte“. Meyer leitet bei der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität die Unterabteilung Rechtsbeugung, ist mithin zuständig für die Ahndung all jener Fälle, in denen Parteifunktionäre der SED Einfluß auf die Urteile oberster DDR-Gerichte genommen haben oder die Richter aus eigenem Interesse DDR-Recht gebeugt haben. 180 Ermittlungsverfahren und 170 Prüfvorgänge haben Meyer und seine Kollegen bereits eingeleitet, doch nun verlangsamt sich der Puls der Zeit bedrohlich. 40 der Ermittlungsverfahren liegen bereits brach, sie betreffen auch Urteile, in denen Todesstrafen ausgesprochen und vollstreckt wurden. Der Grund: Der AG Regierungskriminalität fehlen die Staatsanwälte. Jeder sechste hat die Ermittlungstruppe bereits verlassen, im kommenden Frühjahr droht, so der Leiter der AG, Oberstaatsanwalt Christoph Schaefgen, „der Todesstoß für die Arbeit“. Denn Ende März läuft die Zulage aus, mit der die Staatsanwälte, die zum überwiegenden Teil aus den alten Bundesländern stammen, ihren Berlin-Aufenthalt finanzieren. Eine Anschlußfinanzierung ist im Etat von Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) nicht vorgesehen.

Bei Einrichtung der Spezialtruppe im Mai 1991, so klagt Schaefgen, sei immer davon ausgegangen worden, daß die Arbeit zehn Jahre dauern werde. 50 Staatsanwälte wurden damals von den alten Bundesländern nach Berlin abgeordnet. Turnusgemäß wechselten eine Reihe von ihnen nach zwei Jahren wieder in ihre Heimatländer. Doch der Ersatz kam immer spärlicher – mit fatalen Konsequenzen.

So stagnieren die Ermittlungen gegen Devisenbeschaffer Schalck- Golodkowski, weil von den zwei Staatsanwälten, die dessen Verstöße gegen die Devisenbewirtschaftungsgesetze ahnden, einer bereits im Sommer, der andere Ende Oktober Berlin verläßt. Erst vor drei Tagen konnte ein Ersatzstaatsanwalt besorgt werden, doch muß der erstmal eingearbeitet werden. Schalck-Golodkowski kann sich also noch eine Zeitlang seiner Freiheit erfreuen, denn die Anklage gegen ihn, so Schaefgen, „wird verzögert“. Auch beim Komplex „Todesschüsse an der Grenze“ türmt sich bei der Staatsanwaltschaft „ein Berg unerledigter Verfahren“, die bereits von der Polizei ausermittelt wurden. Sollten die Akten noch länger liegen, befürchtet Schaefgen Rückwirkungen auf die Beweislage, weil das Gedächtnis nachläßt oder Beteiligte verschwinden. Das könne theoretisch dazu führen, daß es nicht mehr zum gerichtlichen Verfahren kommt.

Während der strafrechtlichen Verjährung durch Unterbrechungshandlungen begegnet werden kann, droht vor allem im Bereich der Rechtsbeugung eine „biologische Verjährung“. Ein Großteil der Verfahren resultiert aus den fünfziger und sechziger Jahren, die Beschuldigten als auch die Zeugen sind entsprechend betagt. „Wenn wir da nicht zügig arbeiten“, so Schaefgen, „wird die Folge sein, daß wir Sachen einstellen müssen.“

Bei der AG Regierungskriminalität sind 2.500 Verfahren gegen die gleiche Anzahl von Personen anhängig. Oberermittler Schaefgen befürchtet eine „Kapitulation des Rechtsstaates vor staatlich gelenkter strafbarer Gewalt“, sollte diesen Straftaten nicht weiter nachgegangen werden. Die Justiz sieht er dann ähnlich heftigen Vorwürfen ausgesetzt wie bei der NS- Unrechts-Aufarbeitung. Sollte nichts geschehen, so Schaefgen, „wird der böse Schein erweckt, als ob man nicht wolle“. Bis zum Dezember wird ein weiterer Rückgang der Ermittlerzahl auf vierzig erwartet. Wenn die sogenannte Buschzulage, die in der Regel 1.500 Mark beträgt, nicht nach dem März nächsten Jahres weitergezahlt wird, dürfte sich Schaefgens Befürchtung bestätigen.

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