: Displacement des Trieblebens
Opulenz als Rigor mortis: Die Pet Shop Boys, Englands letzte lebende Popstars, richten auf ihrer neuen LP noch einmal eine Orgie an – auch wenn sie in den Zeiten von Aids nur noch in mondlandschaftsartigen Räumen spielt ■ Von Harald Fricke
Sie haben alles sehr schnell hinter sich gelassen. Themen der achtziger Jahre waren für die Pet Shop Boys etwa in dieser Reihenfolge: Schwulen-Disco, Pop-Propaganda, „Der Kapitalismus“ und damit verbunden die verlorene Liebesfähigkeit. Die konzeptuelle Seite bestimmten Acidhouse, Ecstasy und Ibiza – „DJ-Culture“ als letzte Erzähltechnik für die „großen Momente“, die in der Musik des britischen Duos leben.
Daran hat sich auch nach drei Jahren Pause mit „Very“ nichts geändert: Die vielbeachtete neue LP ist wieder eine dieser Orgien geworden, wo Glöckchen klingeln und Streicher herumschwirren; ein unvermutetes, spätes Stück Opulenz, wie es in den Zeiten von „Grunge“ und einer neuen Erdverbundenheit fast vollständig als realitätsfremd abgespeckt und der Hochkultur zurückgesendet worden war. „Very“ ist ein prächtiger Anachronismus, der als State of the Art daherkommt, weniger Soundtrack als Siebdruck zum passenden Film, der von Derek Jarman zu sein hätte. Schon die extravagante Covergestaltung macht das klar: ein leuchtend orangefarbener Plastikkasten, mit Noppenfolie überzogen. Dazu Musik, die in ihrem ganzen Bombast selbst dann noch Augenblicke des Glücks erzwingt, wenn James Last sie mit dem NDR-Tanzorchester nachspielen würde.
Sehr viel zielsicherer als andere Popstrategen – Frankie Goes To Hollywood, Madonna etc. – haben die beiden Pet-Shop-Boys-Betreiber Neil Tennant und Chris Lowe nicht von ihren Travestien und fließenden Übergängen abgelassen. Immer noch pendeln die beiden zwischen Inszenierungen à la asketischer Mönch, großer Gatsby und Captain Kirk hin und her. Und trotz dieses Maskenballs ist die Präzision ihrer Slogans am Ende durchschlagender als jedes „All You Need Is Love“ an Sozialutopie einmal versprochen haben mag: „Che Guevara and Debussy dancing to a disco beat“, wie Neil Tennant bereits auf „Left To My Own Devices“ 1988 folgerte. Noch der LP-Titel ihres Best-Of-Albums „Discography“ deutete in seiner Weltformelhaftigkeit zumindest so eine Art Synthese aus Leben und Tanzfläche an.
Nun sind zwar die Dinge des Lebens, mit denen sich die Pet Shop Boys beschäftigen, auch 1993 wesentlich geblieben. Aber ihr Kontext hat sich aus dem Popverbund gelöst; er ist kultureller Overground geworden, in dem Selbstverständlichkeiten sich radikal ins Gegenteil verkehren: Michael Jackson wird zum nützlichen Ersatzobjekt, um einen tief im Verborgenen sitzenden Reinheits- und Bekenntniszwang zu fördern, während zur selben Zeit die Zwei-Meter-Transe Rupaul als Supermodel durchs Video stöckelt und U2s Bono gerne Clintons blankpolierte Präsidentenhände schütteln würde. Neue Jugend gilt heute dagegen eher als mächtig wütend und hört Nirvana; oder tobt sich bei Trance-Musik von innen aus.
Doch die Umwertung aller Pop- Werte interessiert Tennant und Lowe im Grunde sowieso nicht mehr. Eher wirken sie wie zwei ältere sich allmählich ins Graue melierende Herren aus dem berühmt- berüchtigten 56er Jahrgang, ein wenig wunderlich in ihren schreiend gelben und blauen Raumfahrerkostümen anzusehen. Wie eine Mischung aus Outfits/Konzepten nicht mehr ganz jungen Datums: Der Plan, Residents und Gilbert & George. Dazu muß man sich vorstellen, wie Neil Tennant im Video zum Titel „Go West“ mit diesem gewissen postkoital verklärten Blick in die Kamera lächelt, wenn er die revolutionäre Schwulen- Hymne der Village People singt, um dann die tatsächlich verbliebenen Zusammenhänge zu verstehen. Denn die Pet Shops meinen es sehr ernst, wenn sie ihre neue Platte „Very“ nennen – gerade weil sie diesmal wirklich very happy und very funny ausgefallen ist (obwohl oder gerade weil im Englischen very funny und dead funny die gleiche Bedeutung haben).
Waren Titel und Texte der letzten Studio-LP „Behaviour“ eher analytisch und deshalb ohne den Schimmer einer Hoffnung, so herrscht auf „Very“ keinesfalls nur ironisch gebrochen die Atmosphäre einer lauten und ausgiebigen Geburtstagsfeier. Ein Song wie „Yesterday, When I Was mad“, von Tennant im Rummelbudentenor durch eine Megaphon- Tüte gesungen, erinnert in seiner launischen Distinguiertheit, in dem offensichtlich speziell dafür ausgewählten Ambiente der Kirmes ans ziellose Herumstromern – das Displacement des Trieblebens, mit dem sich schon Soft Cell auf ihrem Debüt „Non-Stop Erotic Cabaret“ beschäftigt hatten.
Doch während die damals vom jungen Marc Almond blauäugig beschworene verschwenderische Liebe sich im halböffentlichen Raum abspielte – irgendwo zwischen Rotlichtbezirk, Schlafzimmer und dark room –, sind diese Orte zwölf Jahre später imaginär geworden: Die Videos der letzten beiden Pet-Shop-Singles spielen in einer virtual reality, Tennant und Lowe staksen durch das computer- animierte Manhattan oder flanieren zu „Go West“ auf dem roten Platz in Moskau. Soweit die popmusikalisch gespiegelten Lebensumstände zwanzig Jahre nach dem Sex-Orlando von San Francisco, das die Village People prophezeit hatten.
Die Unsicherheit und Einsamkeit spürt man auch bei Liedern, in denen Tennant konkret von Aids als Trauma der neunziger Jahre singt. Stimmungen wie „Dreaming of the Queen“ – ein Traum, in dem er mit Lady Di bei der Queen Elizabeth zum Tee sitzt – sind in ihrer resümierten Ohnmacht selbst aus dem Munde dieser wahrscheinlich nicht sonderlich betroffenen Frauenfiguren tieftraurig: „There are no more lovers left alive, no one had survived“, und nur Augenblicke später „yes it's true, luv has happened to me and you“. Die Vergangenheitsform der aufgegebenen Begierde tut jedesmal wieder weh, auch und vielleicht gerade weil gleich danach eine Melodie voller Hi-Energy vorbeirast, die man schon ewig gekannt zu haben meint.
Es ist wie mit Wiegenliedern: Die Pet Shop Boys rühren an kollektive Erinnerungen und Gefühle. Sogar ein Song über das täglich von neuem unbarmherzige Beziehungsflickwerk wie „Can you forgive her?“ funktioniert sowohl massenhaft als auch privat. Vielleicht liegt die ungebremste Popularität der beiden streng wie role models agierenden Musiker (ob in der englischen Bild-Zeitung The Sun oder im New Musical Express – ihr Look ist immer einheitlich) aber auch in der Kluft zwischen Individuellem und Allgemeinem, die sich in den Liedern auftut. Die großen Momente der Pet Shop Boys sind erhaben und gleichzeitig lebensweltlicher Durchschnitt; wie im Fernsehen, bei dem die distanzierte Dringlichkeit der Bilder dem Betrachter einen immensen Spielraum für das Aufarbeiten überläßt, ohne ihn wirklich mit einzubeziehen. Niemand soll sich mit ihnen identifizieren, aber alle können an der Disco-Maschine teilhaben, gerade weil sich jede Persönlichkeitsstruktur in der Apparatur des Pop als Rigor mortis entpuppt. Anders als Elvis, der als „King“ für die Wünsche seines Publikums symbolisch mit seiner Person einsteht, sind die Pet Shop Boys keine Subjekte, keine Autoren. Sie singen wie aus dem Hinterhakt von Spiegeln. Sie verschwinden hinter dem Sound, während sich in den Texten jede Einfühlung objektiviert: Wenn Tennant von guten oder auch nur irgendwelchen Freunden singt, glaubt man bereits, er hätte nie welche gehabt.
Trotzdem, und das ist das Verblüffende, erfährt die sich öffnende Privatheit auf „Very“ eine Übersteigerung, die kaum Raum für eigene Bilder läßt. Jedes Wort wird ausgesprochen, jede Regung thematisiert – und doch bleibt der Privat-Trash am Ende abstrakt. Von der sinnlichen Direktheit einer Zeile wie „I love you and you pay my rent“, in der einmal alle Abhängigkeitsverhältnisse zusammenfielen, sind so gezierte Titel we „I Wouldn't Normally Do This Kind Of Thing“ heute weit entfernt. „The Man Who Was Everything“ auf der Bonus-CD „Relentless“ ist fast im Geiste Andy Warhols Jedermann gewidmet – und deshalb ausdruckslos: Der Song implodiert in einer einzigen durchgehenden Sphärenmelodie, von der Stimme bleibt nur ein Sample übrig.
Es ist das „Bauhausprogramm der Formgebung des Lebens“, von der Marshall McLuhan im Hinblick auf das Fernsehen geschwärmt hatte. Die passende Umsetzung in Bilder wäre ein Gesamtkunstwerk aus ZDF-Ballett und minimalistischem Tanztheater – oder eben der Pet-Shop-eigenen Variante: mit Papphüten im Cyberspace.
Pet Shop Boys: „Very“ (Parlophone, EMI)
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