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Ein glaubenloser Jude

Aus Anlaß des 15. Todestags des Kritikers und Essayisten Jean Améry: Eine Erinnerung an seine Kritik des linken Antizionismus  ■ Von Henryk M. Broder

Nicht nur dem bürgerlichen Kulturbetrieb war Jean Améry zeitlebens eine suspekte Figur, auch die alte und die neue Linke in der Bundesrepublik konnte mit ihm wenig anfangen. Von der leidenschaftlichen Liebe deutscher Intellektueller zu toten und todkranken Juden, einem nekrophilen Philosemitismus, der sich an Heinrich Heine, Rosa Luxemburg und Erich Fried austobte, blieb Améry zeitlebens verschont. Damit das auch weiter so bleibt, soll an einen Aspekt in Amérys Werk erinnert werden, mit dem er sich in Widerspruch zum Zeitgeist und um manche verdiente Ehrung gebracht hat.

Anfang bis Mitte der siebziger Jahre hatte die revolutionäre Linke in der Bundesrepublik alle Hausaufgaben erledigt, alle strategischen Ziele erreicht: Eine Räterepublik war etabliert worden, die Industrie und die Banken waren endlich vergesellschaftet, in den Betrieben hatten die Arbeiter das Sagen, in den Hochschulen die Studentenausschüsse, in den Verlagen legten die Setzer die Grenzen der Meinungsfreiheit fest. So konnte sich die revolutionäre Linke ihrem nächsten Ziel zuwenden: der Befreiung Palästinas vom zionistischen Joch, eine Aufgabe, die auf der Liste linker Prioritäten ganz oben rangierte. „Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot“ war eine Parole, die man damals auf Demonstrationen hören konnte, bei denen Imperialismus, Faschismus und Zionismus der Kampf bis zum Endsieg angesagt wurde. Einigen Übersensiblen klang dieser Schlachtruf wie eine zeitgenössische Variante von „Juda verrecke!“ in den Ohren, sie mußten sich aber sagen lassen, daß sie nur korrekt zwischen Antisemitismus und Antizionismus unterscheiden sollten. Das eine war ein Relikt des Nationalsozialismus, mit dem die revolutionäre Linke nichts zu tun haben wollte, das andere Ausdruck des richtigen politischen Bewußtseins, dessen Träger aus der Geschichte gelernt hatten. Jean Améry war der erste und eine ganze Weile der einzige Denker von Rang, der diese Aufteilung eines Ressentiments in eine anrüchige und eine anständige Version das nannte, was es war: Lüge, Heuchelei, Betrug; Selbstbetrug, wenn man mildernde Umstände geltend machen wollte.

In einem Aufsatz mit dem Thema „Die Linke und der Zionismus“ (1969) – der Sechs-Tage- Krieg war gerade zwei Jahre vorbei – schrieb Améry, die Linke habe es „verstanden, den Begriff Zionismus zu ent-definieren“, denn: „Unter Zionismus versteht die Linke ungefähr das, was man vor rund 30 Jahren in Deutschland das ,Weltjudentum‘ genannt hat. Gegen diesen Zionismus, den man auch ,National-Zionismus‘ nennt, um ihn schon phonetisch dem Nationalsozialismus anzunähern, erhebt sich linker Purismus, linker Eifer, linke Tugend. [...] Die Linke sieht Israel als den Aggressor und Oppressor, als den Waffenträger westlicher beziehungsweise amerikanischer imperialistischer Unterdrückung.“ Wie konnte es so weit kommen? „Was hat geschehen müssen, daß die Linke der Welt einstimmt in einen Haßgesang gegen Israel, der, des bin ich gewiß, wenn die Dinge weiter ihren Lauf nehmen, schließlich dem schlechten unrechten Antisemitismus dienen muß? Wie ist es geschehen, daß marxistisch-dialektisches Denken sich dazu hergibt, den Genozid von morgen vorzubereiten?“

Zu dieser Zeit war die Erinnerung an die Nazi-Zeit noch frischer, als es heute der Fall ist. 22 Jahre nach Kriegsende mußte die von Nasser am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges gemachte Drohung, die Juden würden ins Meer getrieben, ernst genommen werden, zumindest von jenen, die gerade eben der Vernichtung entkommen waren. Améry versuchte, diesen Zusammenhang den linken Antizionisten bewußt zu machen. „Um das Phänomen Israel zu verstehen, muß man aber auch vollumfänglich die jüdische Katastrophe begreifen. In Israel ist, metaphorisch gesprochen, jedermann Sohn, Enkel eines Vergasten. [...] Jeder Jude befindet sich – und noch für lange Zeit – auf einem jener Todesmärsche, die im Frühling 1945 evakuierte jüdische KZ- Häftlinge zurücklegten. Die neue Linke begreift nicht, daß Israel immer noch und wohl einige Dezennien Zukunft lang nur vor dem finsteren Hintergrund der Katastrophe gesehen werden kann. Israel ist – aber wie soll man jungen Menschen das deutlich machen? – kein Land wie irgendein anderes: Es ist die Zufluchtsstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen.“

Amérys Versuche, der neuen Linken zu erklären, wie aus einer Kaffeehaus-Idee ein politisches Gebilde namens Zionismus geworden war, hatten etwas Rührendes an sich. Es war, als wollte er erklären, warum Behinderte mit ihren Krücken um sich schlagen, wenn sie angegriffen werden. Améry bat um „ein Minimum an gutem Willen und Gerechtigkeitssinn im politischen Urteil“, er appellierte an Vernunft und Einsicht: „Braucht es eines besonderen soziologisch- politologischen Genies, sich deutlich zu machen, daß man mit Antizionismus dem Antisemitismus jenen kleinen Finger reicht, dem unweigerlich die ganze Hand nachfolgen muß? Ein Quentchen gesunden Menschenverstandes reicht wohl aus. Man kann sich nicht abfinden mit dem Gedanken, daß die Junglinke dieses Quentchen eingetauscht hat gegen unreflektierte dialektische Phraseologie und auf Stromlinie gebrachte Werwolfromantik.“

Doch genauso war es. Wer in den siebziger Jahren ein echter Revolutionär sein wollte, der lief mit einer palästinensischen Kefiyah auf dem Kopf umher, ein Besuch in einem Lager der Fatah war für die aktiven Revolutionäre ebenso eine Pflichtübung wie es für deren Eltern beziehungsweise Großeltern ein Ausflug auf den Obersalzberg gewesen war. Richtig virulent wurde der von Améry schon Ende der sechziger Jahre diagnostizierte Antizionismus aber erst nach dem Yom-Kippur-Krieg im Herbst 1973. Zu gern hätte sie sich mit ein oder zwei Millionen toter Juden solidarisiert, die Opfer an die linke Brust gedrückt und ihnen ein paar Gedenkbücher und Dokumentarfilme gewidmet. Für ein bis zwei Anne Franks aus Tel Aviv wäre im linken Bewußtsein noch Platz gewesen, irgendwo zwischen Rosa Luxemburg und Che Guevara. Dennoch setzte Améry seine Überzeugungsversuche fort. In seinem Aufsatz „Juden, Linke – linke Juden“ (1973) spricht er von dem schlichten Faktum, „daß es eine Art von existentieller Bindung [...] der immensen Mehrheit aller Juden in der Welt an den Staat Israel gibt“. Er selbst sei mit den Repressalienaktionen Israels nicht einverstanden, noch halte er es für einen gesunden Zustand, „daß die Israelis sich zum ,Herrenvolk‘ machen, indem sie [...] arabische Gastarbeiter importieren“, sein linkes Gewissen sei „durch derlei Tatbestände belastet“, dennoch sei er sich bewußt, „daß ich an der Existenz dieses Landes, das ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht spreche, dessen Religion nicht die meine ist und dessen Folklore mir so fremd ist wie die irgendeines schwarzafrikanischen Stammes, ein tief verankertes Interesse habe. Dieses Interesse aller Juden an der Existenz Israels ist nichts weniger als irrational. Im Gegenteil: Es ist aufs Allerrationalste und ohne jegliche Schwierigkeit analysierbar. Jeder Jude hat durch das Bestehen dieses Staates eine neue Identität gewonnen. [...] Seit es Israel gibt, weiß er: Der Jude ist nicht, wie der Antisemit es ihm eingeredet hatte [...], feige, unfähig zu manueller Arbeit, geboren nur zu Geldgeschäften, untauglich zum Landbau, ein faselnder Stubenhocker und bestenfalls geistreichelnder Schwätzer. Er weiß aber noch mehr, nämlich: daß wann immer es ihm, wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, daß er, solange Israel besteht, nicht noch einmal unter der schweigenden Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigstenfalls unter deren unverbindlichem Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann.“ Améry beschloß seinen Aufsatz mit einer Warnung an seine linken Freunde, die an Deutlichkeit nicht zu übertreffen war: „Wer die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm um einzusehen, daß er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewußt auf dieses Über-Auschwitz hin.“

Noch war Améry bereit, an einen Defekt des Bewußtseins, an eine Art moralischen Blackout zu glauben, der durch Bewußtwerdung behoben werden konnte, so wie ein Kurzschluß durch Auswechseln der Sicherung. Zu dieser Zeit hatte sich jedoch die neue Linke bereits von Israel verabschiedet, sie fühlte sich nicht mehr für die Opfer ihrer Eltern, sondern für die Opfer der Opfer verantwortlich, die Palästinenser. Daß diese die Juden der Israelis wären, war ebenso weitverbreitete Überzeugung wie die Ansicht, die Israelis würden den Palästinensern genau das antun, was die Nazis den Juden angetan haben. Lange vor dem Ausbruch des Historikerstreits unternahmen es die Wortführer der neuen Linken, die deutsche Geschichte zu entsorgen – auf Kosten derer, die an dieser Geschichte beinahe verreckt wären.

Der Yom-Kippur-Krieg hatte der neuen Linken nicht klargemacht, wie gefährdet Israel war, daß die zweite Endlösung für die Einwohner des Landes keine theoretische Option war, der Krieg hatte den antizionistischen Furor, von dem Améry schon 1969 sprach, nur gesteigert. Der Herausgeber einer damals noch relativ wichtigen linken Wochenschrift schrieb, diesmal hätten die Juden nicht wie 1967 präventiv losgeschlagen, sondern absichtlich gewartet, bis sie angegriffen wurden, die Araber in die Falle gelockt, um anschließend als die unschuldigen Opfer einer Aggression dazustehen. Eine solche Strategie wäre noch perfider als ein richtiger Angriffskrieg. Solche Überlegungen waren die linke Variante jener Stammtischgespräche, in denen es darum ging, daß die Juden nicht nur dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, sondern hinterher auch die Auschwitz-Lüge erfunden hätten, um sich als die Opfer der Nazis darstellen zu können. Nur daß Stimmtischgespräche dieser Art eher verschämt geführt wurden, während sich der linke Antizionismus ganz frei und unverschämt artikulierte. Es gab einen weiten Konsens darüber, daß der Nahe Osten so lange nicht zur Ruhe kommen könnte wie der zionistisch-imperialistische Staat Israel seine Aggressionspolitik gegen die arabische Welt treiben würde. Die Gutmütigen und Wohlmeinenden unter den Antizionisten waren bereit, mit sich über einen „säkularen, bi-nationalen Staat in Palästina“ reden zu lassen, „in dem auch Juden leben könnten“, die Radikalen sahen in der „Auflösung des zionistischen Gebildes“ den einzigen Weg zur Lösung des Konflikts, wobei sie sich über das Schicksal der Juden, die in diesem Gebilde lebten und leben bleiben wollten, keine Gedanken machten. Dieselben fortschrittlichen Köpfe, die sich über den Revisionismus der Schlesier, Pommern und Sudetendeutschen vor Entsetzen schüttelten, vertraten mit Nachdruck das Recht der vertriebenen Palästinenser, in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen. Es galt als ausgemacht, daß der Konflikt um das Bleiberecht in Palästina die Lunte war, die zu einem Dritten Weltkrieg führen konnte und daß es deswegen ein Gebot der Vernunft war, die große Katastrophe zu verhindern. Und um den Weltfrieden zu retten, erschien die Opferung Israels als ein angemessener Preis, sozusagen das kleinere Übel. Nur die Juden waren zu stur und zu egoistisch, um das einzusehen.

1976 veröffentliche Jean Améry einen Aufsatz „Der neue Antisemitismus“, den er mit folgenden Sätzen begann: „Wird der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig? Die Frage wäre noch vor fünf Jahren als ziemlich absurd erschienen oder auch – wenn von Juden gestellt – als Ausdruck leicht paranoider Gemütsverfassung. Dies hat sich, so will mir scheinen, radikal geändert. Der Antisemitismus [...] steht im Begriffe, sich wieder in die politische Diskussion einzudrängen und sich ganz unverschämt breit zu machen.“ Im Gegensatz zu seinen vorausgegangenen Aufsätzen sprach Améry nicht mehr von Abweichungen, Irrtümern, unbewußten Regungen, er stellte nur noch fest, daß es so ist, wie es ist: „Der Antisemitismus, mit dem wir es heute zu tun haben, nennt seinen Namen nicht. Will man ihn haftbar machen, verleugnet er sich. Man kann ihm nur schwer den Prozeß machen, den er schon längst verloren hat, der aber gleichwohl ein Verfahren in Permanenz zu bleiben hätte. Was sagt der neue Antisemit? Etwas überaus Einfaches und dem flüchtigen Blick auch Einleuchtendes: Er sei nicht der, als der man ihn hinstelle, nicht Antisemit also sei er, sondern Anti-Zionist! Damit glaubt er sich, seine Ehre salviert zu haben, dies um so leichter, als schon mehr als drei Jahrzehnte vergingen, seit Auschwitz weltnotorisch wurde, so daß die allgemeine moralische Entrüstung ihren Élan vital einbüßte, und – was noch entscheidender ist – das Nahostproblem neue schreckliche Vereinfachungen möglich macht. Der unverschämt- verschämte Antisemit von heute hat es gut. Die Existenz des Staates Israel, der so wenig ein Staat des Rechts ist wie irgendein anderer, aber nicht mehr ein Staat des Unrechts als die staatlichen Verbände der christlichen und außerchristlichen Welt, reicht ihm handliche Argumente dar.“

Amérys Ton wird schärfer. Er verzichtet auf wohlwollende Floskeln wie die, er fühle sich jenen, die er kritisiert, nahe. Die Hand, eben noch freundschaftlich ausgestreckt, ballt sich zur Faust: „Der Anti-Zionismus ist nichts anderes als die Aktualisierung des uralten, offensichtlich unausrottbaren, ganz und gar irrationalen Judenhasses von eh und je.“ Neu wäre allenfalls „das beschämende Faktum, daß der als Anti-Zionismus sich bezeichnende Antisemitismus seine zügellosesten Vertreter in einem politischen Lager hat, in dem man antisemitische Affekte kaum erwartet hätte: im linken“.

Und doch fällt Améry, bei aller Klarheit, der Abschied von der Vorstellung schwer, das Ganze wäre nur ein Mißverständnis, man müßte all diese verwirrten Geister, die Jungsozialisten, die orthodoxen Kommunisten, die Maoisten, die Trotzkisten und die Linksradikalen am Rande des linken Spektrums, nur kräftig durchschütteln, damit sie wieder zu sich kommen und begreifen, was sie eigentlich tun. „Es ist geradezu tragisch, daß hier die Linke das Geschäft ihrer Widersacher betreibt, teils aus Gedankenlosigkeit und phraseologischer Verbocktheit, als aber auch [...] aus Gründen einer nicht ausgemerzten allgemeinen europäischen antisemitischen Tradition.“

Hier irrte Améry in einem wichtigen Punkt. Die antisemitisch-antizionistische Linke betrieb nicht das Geschäft ihrer Widersacher, spielte nicht die Rolle der nützlichen Idiotin, sie fand sich mit ihren Gegnern in einer großen nationalen Koalition zusammen, deren Grundlage die beiden Partnern eigene Abneigung gegen Juden war. Der Antisemitismus hatte schon immer eine gruppenübergreifende identitätsstiftende Funktion, er war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Linke und Rechte, Revolutionäre und Reaktionäre, Proletarier und Bourgeois verständigen konnten. In einer Rede, die Améry 1976 zur Woche der Brüderlichkeit hielt, sprach er auch von der Klammer, die „der ehrbare Antisemitimus“ zwischen den Generationen bilden würde: „Und mit diesem schimpflichen und dummen Antisemitismus, sofern er sich nur als Anti-Zionismus geriert, solidarisieren sich junge Menschen. Nicht etwa ein paar von unverbesserlichen Eltern oder Großeltern irregeleitete Nazi- Sprößlinge, sondern vorgebliche Sozialisten. Und niemand vertritt ihnen mit der nötigen Energie den Weg. Im Gegenteil. Die Bourgeoisie, ob deutsch, französisch oder belgisch, atmet auf, daß sie hierfür einmal im Gleichschritt marschieren kann mit der ansonsten von ihr als Ärgernis angesehenen jungen Generation, deren anti-autoritäre Affekte ihr auf die Nerven fallen.“ Unter dem Dach des Nahost-Konflikts und angesichts der übergeordneten Geschäftsinteressen würde „der Antisemitismus, was er seit der Aufdeckung der Nazi-Schrecken nicht mehr war, nicht hat sein können: ,ehrbar‘.“

Der ehrbare Antisemitismus, der sich für Auschwitz weder zuständig noch verantwortlich fühlt, „der Antisemitismus im Kleide des Anti-Zionismus“, sei Ausdruck der „Selbstzerstörung dessen, was gestern noch die Linke war“; „wir sind Zeugen, wie die sich als ,links‘ verstehenden politischen Gruppen kein Wort verlieren, wenn ein Despot und Paranoiker in Uganda sich abscheulicher Morde schuldig macht, wie sie nicht protestieren, wenn der absolute Herrscher Libyens Gesetze erläßt, nach denen ehebrecherische Frauen gesteinigt werden. [...] Die Linke hält den Mund, und sofern sie redet, ist ihr Vokabular im eigentlichen Wortsinne ver-rückt. Die Gewaltregime Syriens und Iraks, wo gelegentlich auch Kommunisten in den Kerker geworfen werden, nennt sie hartnäckig ,progressiv‘. Israel aber, kein Musterstaat, gewiß nicht, aber doch ein Gemeinwesen, wo Opposition, auch anti-nationale, sich regen darf, ist in der linken Mythologie ein ,reaktionäres‘ Land. Es ist schlimmer als die unheimliche Dialektik, vermittels derer jeder und jedes sich rechtfertigen läßt. Es ist das politische Hexeneinmaleins. Es ist die totale Verwirrung der Begriffe, der definitive Verlust moralisch-politischer Maßstäbe.“

Wer nicht an der weitverbreiteten deutschen Volkskrankheit, der Amnesie, leidet, wird die Formel von der Verwirrung der Begriffe, vom Verlust moralisch-politischer Maßstäbe für eine überaus feine und zurückhaltende Umschreibung halten. Die Ermordung der israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen in München wurde in weiten Kreisen der Linken als ein legitimer Akt antizionistischen Widerstands gewürdigt. Nach der Entführung einer Air- France-Maschine nach Entebbe, der von deutschen Revolutionären durchgeführten „Selektion“ der Passagiere und der anschließenden Befreiung der Geiseln durch ein israelisches Kommando, wurde von Sprechern der verwahrlosten Linken die „Verletzung der territorialen Souveränität Ugandas“ verurteilt, konnte sich Idi Amin an Solidaritäts- und Beileidstelegrammen aus der Bundesrepublik erfreuen, deren Absender ihre antizionistische Gesinnung wie ein polizeiliches Führungszeugnis präsentierten. Eine bekannte Journalistin und Vorkämpferin für die Rechte der Frauen bekannte mit einiger Verspätung, die Entführung der Maschine habe sie geschockt, weil die Entführer „nicht etwa nach Zionisten, sondern nach Juden und Nicht-Juden“ selektiert hätten. Hätten die Entführer politisch korrekt nur Zionisten herausgepickt, wäre vermutlich alles in Ordnung gewesen. Der ägyptische Präsident Sadat galt den Linken als ein Verräter, weil er mit Israel Frieden geschlossen hatte, seine Ermordung wurde wie ein Akt der Vorsehung gefeiert. In der Redaktion einer fortschrittlichen Kölner Monatszeitschrift knallten die Sektkorken. 1985 wurde dann, im Zusammenhang mit der verhinderten Aufführung von Faßbinders Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ das „Ende der Schonzeit“ für die Juden erklärt, die Jagd konnte wieder beginnen. Ein Jahr darauf veröffentlichte die Alternative Liste in Berlin ein Plakat, eine Art Steckbrief, mit dem sie zur Diskussion im sogenannten „Berliner Bauskandal“ beitragen wollte. Das Plakat zeigte eine Judenfratze, wie sie im Stürmer nicht hätte schöner gezeichnet sein können, Symbol des Spekulanten und Ausbeuters. Erst nachdem Proteste laut wurden, zog die AL das Plakat mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück – so sei es nicht gemeint gewesen. Die Frage, wie ein Grafiker ausgerechnet auf ein solches Motiv kommen konnte, blieb unbeantwortet.

Heute wissen wir, daß es die neue Linke war, die den Antisemitismus wieder salonfähig gemacht hat, und nicht die alte Rechte, die ihre Lufthoheit über deutschen Stammtischen verteidigt. Wir wissen, daß Jean Améry recht hatte, als er warnte, „daß man mit Anti- Zionismus dem Antisemitismus jenen kleinen Finger reicht, dem unweigerlich die ganze Hand nachfolgen muß“. Daß die Linke dabei selbst völlig auf den Hund gekommen und in der politischen Arena der Bundesrepublik so gut wie nicht mehr auszumachen ist, ist nur ein schwacher Trost. Das Schöne am Antisemitismus ist, daß er die Antisemiten noch stärker schädigt als die Juden. In seinem Aufsatz „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, 1966 erschienen, schreibt Améry: „Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer. Die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ,Ich bin Jude‘, dann meine ich damit die in der Auschwitz-Nummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.“ Die Dramaturgie des Antisemitismus, heißt es einmal, bestehe weiter, eine neuerliche Massenvernichtung von Juden könne nicht ausgeschlossen werden. Dennoch sei er nicht „traumatisiert“. „Ich stehe in voller geistiger und psychischer Entsprechung zur Realität da. Das Bewußtsein meines Katastrophen-Judeseins ist keine Ideologie. Es darf verglichen werden dem Klassenbewußtsein, das Marx den Proletarien des neunzehnten Jahrhunderts zu entschleiern versuchte.“

Wir haben Jean Améry zu danken. Wir verneigen uns vor einem glaubenlosen, klassenbewußten Juden.

Fortsetzung auf Seite 14

Fortsetzung von Seite 13

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