Tätige Solidarität

Helmut Gollwitzer: Immer an der Seite der Opposition  ■ Von Bernd Rabehl

Unlängst traf ich Helmut Gollwitzer in der Nähe seines Hauses. Ich war in Eile und rief ihm meine guten Wünsche zu. Er blieb stehen. Er konnte mich nicht erkennen und blinzelte herüber. In dieser Situation war es mir zu aufwendig, Erklärungen abzugeben, alte Zeiten aufleben zu lassen und mich einzureihen in die Kette von Erinnerungen. Der alte Gollwitzer wünschte mir Mut und beteuerte, daß er sich den Umständen entsprechend gut fühlte. Ich lief weiter und ärgerte mich, nicht Muße gefunden zu haben, mich auf ein Gespräch mit ihm eingelassen zu haben.

Es gab in den endsechziger Jahren kaum eine Handvoll Professoren, die sich bemühten, die Motive einer Revolte von Studenten gegen den politischen Zustand der Republik und gegen die Verhältnisse an der Universität zu verstehen und gutzuheißen. Gollwitzer gehörte zu diesen weisen Alten, die das Gespräch nicht abreißen ließen und dabei immer wußten, daß sie nicht aufdringlich oder besserwisserisch auftreten konnten. Gollwitzer erkannte sehr schnell die Gefährdung der Familie Dutschke. Seine Frau und er holten sie in ihr Haus, um so etwas wie Schutz und Geborgenheit zu geben.

Nach dem Attentat waren die beiden Gollwitzers bemüht, die Genesung von Dutschke abzusichern. Sie schufen Verbindungen und sorgten für Geld und Auskommen zu einem Zeitpunkt, zu dem das ehemalige Idol der Revolte, Dutschke, von allen Freunden und „Genossen“ verlassen schien. Die Gollwitzers wurden so etwas wie ein Symbol tätiger Solidarität, die sehr viel von christlicher Nächstenliebe enthielt, die jedoch demonstrierte, wie oberflächlich die politische Solidarität einer Linken war, die über ihre internen Streitigkeiten und Querelen die Verantwortung für die Mitstreiter aufgegeben hatte.

Journalisten und Politiker hatten in ihrem brutalen Aktualisierungsdrang längst ihre alten Sympathien vergessen.

In der Totenmesse von Dutschke brachte der Seelsorger, Professor, väterliche Freund Gollwitzer zu Beginn des Jahres 1980 sein Denken zum Ausdruck. Seine Trostsprechung war getragen von einem großen Lebensoptimismus, der in einem tiefen christlichen Glauben begründet war. Gollwitzer war nie den modischen Ideologen einer Linken nachgelaufen.

Er wußte von den inneren Tendenzen einer kapitalistischen Zivilisation, den Menschen zu vereinzeln und zu reduzieren auf die Erbärmlichkeiten des Lebens und den Staat aufzublähen zu einer absoluten Macht.

Deshalb hatte er in der Nazi- Diktatur den Mut gefunden, innerhalb der „bekennenden Kirche“ gegen diese Herrschaft anzugehen. Nach 1945 konnte er sich nie mit dem Erreichten zufriedengeben. Diese Gesellschaft schuf ihre inneren Bedrohungen in Gestalt von Notstandsgesetzen, Polizeistaat, Aufrüstung und Rechtsradikalismus.

So war er immer auf der Seite der Opposition und des Protests. Seine Motive waren jedoch nie primär politischer Natur, sondern besaßen ihr Fundament in einem alttestamentarischen Glauben.

Der Autor, 55, saß von 1967 bis 1968 im Bundesvorstand des Sozialistischen Studentenbundes (SDS) und arbeitet heute als Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin.