: „Die beste Diagnose hat der Pathologe“
■ Führende PolitikerInnen aus den letzten Monaten der DDR diskutierten vor wütendem Publikum über Wende und Einigungsvertrag / Einheit ist out, Ostdeutschland ist in
„Das Mißtrauen gegeneinander ist vielleicht das Schlimmste. Noch schlimmer aber ist zu sehen, daß es berechtigt ist.“ Der so spricht, war 1990 der letzte Ministerpräsident der DDR, heißt Lothar de Maizière und erntet mit solchen Worten Beifallsstürme. Und das, obwohl er den Einigungsvertrag mitzuverantworten hat. Für die deutsche Wiedervereinigung standen die Popularitätspunkte schlecht am Mittwoch abend in der Stadtbibliothek in der Breiten Straße in Mitte. Die „Alternative Enquete- Kommission Deutsche Zeitgeschichte“ hatte zur Podiumsdiskussion geladen, und das Ostvolk kam, um seine einstigen Oberen zu hören. „Von der Wende zum Ende“ – die Zeit zwischen Maueröffnung und Wiedervereinigung stand zur Debatte, und der Saal platzte aus allen Nähten.
Was die DiskutantInnen zu sagen hatten, steht längst in ihren Erinnerungsbüchern. Egon Krenz, Honecker-Nachfolger und selbsterklärter Rebell, bleibt an diesem Abend der Blasseste. Christa Luft, einst Rektorin der Hochschule für Ökonomie und für 121 Tage Stellvertreterin von Ministerpräsident Hans Modrow. Günter Maleuda, einst Chef der Bauernpartei und im gleichen Zeitraum Volkskammerpräsident. Lothar de Maizière und Peter Michael Diestel, der Ministerpräsident und sein Stellvertreter in der letzten Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, beide CDU.
Stinkbomben für den Einigungsvertrag
Die Stimmung ist aufgeheizt im unzufriedenen Teil der Republik. Maleuda zitiert de Maizière, als der sagte, die Einheit müsse „so schnell wie möglich und so gut wie nötig“ kommen: „Auf das ,so gut wie nötig‘ warten wir noch heute!“ Beifall. De Maizière verteidigt sich: „Der Einigungsvertrag ist besser als sein Ruf.“ „Buh, pfui!“ schallt es zurück, und Stinkbombengeruch breitet sich in Teilen des Saales aus. Christa Luft meint, man hätte mit dem Einigungsvertrag auch sämtliche Auslaufmodelle der Bundesrepublik mit übernommen. „Zum Beispiel das Steuersystem. Es bietet ja viele Vorteile, aber nur für die, die juristisch gebildet sind und sich das Recht auch nehmen können.“ Beifall. „CDU und SPD überbieten sogar die SED, was das parteipolitische Aufteilen von öffentlichen Posten angeht!“ Beifall. De Maizière zu Helmut Schmidts Kritik am Einigungsvertrag: „Postmortale Klugscheißerei!“ Heiterkeit. „Die beste Diagnose hat immer der Pathologe“, setzt de Maizière nach, und keiner fragt, was die fünf eigentlich da oben gerade machen. Zur Rentenregelung: „Hier muß ich mir selbst Blauäugigkeit und Naivität bescheinigen...“ Rufe: „Die größte Sauerei!“
Ehemalige Wehrpflichtige der Nationalen Volksarmee beklagen, daß sie nun sozialrechtlich so behandelt würden, als ob sie in der französischen Fremdenlegion oder in einer anderen Armee irgendwo im Ausland gedient hätten. Diestel gibt ihnen recht: „Ja, das ist nicht gut.“ Zuruf: „Das ist die staatsrechtliche Festschreibung des Begriffs ,Russenknecht‘!“ Gelächter und Beifall.
„Die Not läßt uns alle näher zusammenrücken“
Wolfgang Harich, der Vorsitzende der Alternativen Enquete-Kommission, kritisiert de Maizière und Diestel, wie sie einem Einigungsvertrag zustimmen konnten, der überhaupt eine Diskussion über Berlin als Regierungssitz zuläßt. „Wenn Kohl ein guter Deutscher wäre, würde er längst von Berlin aus regieren!“ So spricht ein Professor für marxistisch-leninistische Philosophie, der in den fünfziger Jahren im DDR-Knast saß, weil er die Parteiführung von links kritisiert hatte. Wer hier noch nach einer politischen Linie forscht, der sucht vergebens. Alles gerät durcheinander und ordnet sich wieder im ostdeutschen Konsens, den Diestel vorgibt: „Die Not läßt uns alle näher zusammenrücken.“
„So sehr in Not bist gerade du ja nu nich“, zischelt's vereinzelt im Publikum, aber der Beifall ist lauter. Moderator Siegfried Prokop, in den fünfziger Jahren aus Bonn nach Ostberlin übergesiedelt, schließt die Veranstaltung: „Es sollen alle wissen: Von nun an werden sich die Ostdeutschen einmischen.“ Das klingt wie eine Drohung und ist auch so gemeint. Fast möchte man einen Spruch des alten Kaiser Wilhelm abwandeln: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Ostdeutsche.“ Aber so sagt's denn doch keiner. Bernd Pickert
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