piwik no script img

„Keine Angst, hier ist alles normal“

Die 500.000 Einwohner der sibirischen Universitätsstadt Tomsk leben in der Nachbarschaft einer Plutoniumfabrik / Am 6. April 1993 explodierte dort eine Anlage mit radioaktiver Flüssigkeit  ■ Aus Tomsk Donata Riedel

„Nach Tomsk wollen Sie?“ Die Zugschaffnerin ist verblüfft. „Bei uns gibt es doch nichts zu sehen; wir haben ja bloß Radioaktivität.“ Schon lange sei niemand mehr von auswärts in ihrem Zug mitgefahren. Auch jetzt sitzen im Direktwaggon aus Irkutsk ausschließlich Bewohner der alten sibirischen Universitätsstadt, die 1604 gegründet wurde. Sogar die in Sibirien allgegenwärtigen chinesischen Händler haben spätestens in Krasnojarsk den Zug verlassen. „Wir“, sagt Tanja Iwanowa, „sind doch nur die Kaninchen in einem großangelegten Versuch.“

Damit allerdings meint sie nicht das Leben in der Nachbarschaft der Plutoniumfabrik, aus der am 6. April 1993 Radioaktivität freigesetzt wurde, sondern die Wirtschaftsreformen. Sie und ihr Mann, beide technische Facharbeiter, sind arbeitslos. „Ich selbst habe ja mit den zwei Kindern und im Haushalt genug zu tun, aber ich fürchte, daß mein Mann zu trinken anfängt, wenn er immer nur zu Hause sitzt.“ Und die Radioaktivität? „Sie sagen, daß bei uns in der Stadt alles normal ist“, sagt Tanja. Dasselbe sagt die Schaffnerin – sie allerdings mit sarkastischem Unterton.

Auf der Leninstraße jedenfalls ist alles normal. Menschen mit großen Taschen drängeln sich zum Einkauf in den Geschäften der Tomsker Hauptstraße. Kein Plakat erinnert an den Unfall in der nur 15 Kilometer flußabwärts gelegenen „radiochemischen Fabrik“. In den zahlreichen Buchläden liegen, neben den wissenschaftlichen Lehrbüchern für die 70.000 Studenten der Universität, dieselben Ratgeber aus wie überall in der russischen Föderation: „Wie werde ich Millionär?“, „Wirtschaft nach westlichem Modell“, „Manager“.

Einen Stadtplan der 500.000-Einwohner-Stadt allerdings sucht man vergebens: Bis Anfang 1992 war das gesamte Tomsker Gebiet militärische Sperrzone. Heute ist nur noch die Plutoniumfabrik namens „Sibirisches Chemisches Kombinat“ (SCK) und die ihr angeschlossene Stadt Tomsk-7, in der 15.485 Menschen leben, ein geheimer Ort. Neue Stadtpläne gibt es trotzdem noch nicht.

Die schönsten Gebäude der Stadt Tomsk, noch aus vorrevolutionärer Zeit und malerisch entlang der Promenade am Fluß Tom gelegen, stehen leer. Zu sowjetischen Zeiten beherbergten sie den Gemüsemarkt und die Geschäfte für Produkte des täglichen Bedarfs, erzählt Tamara Andrejewa, die Rezeptionistin des ersten Hotels am Platze – es heißt übrigens noch immer „Oktober“.

Nach der Öffnung der Stadt für Ausländer wurde der Markt auf ein Freigelände zwei Kilometer weiter nördlich verlegt, die Geschäfte wurden umgesiedelt – „um Investoren und Geschäftsleuten Raum anbieten zu können“, sagt Tamara Andrejewa.

Doch seit dem 6. April kommen nur noch wenige Ausländer nach Tomsk. Im „Oktober“ logieren zwei US-amerikanische Handelsreisende. Sie tragen zerknitterte Chemiefaseranzüge und eine Wodkafahne und fallen dadurch auf, daß sie sich für jedes Glas Tee für 30 Rubel (5 Pfennig) eine Quittung ausstellen lassen.

Lediglich an einem der leerstehenden Prachtbauten ist kürzlich eine Leuchtreklame angebracht worden. „BRT-Bank“. Auch Tamara Alexejewa weiß nicht, wer sich dahinter verbirgt.

„So schnell konnten wir gar nicht gucken, wie die Westler weg waren“, schmunzelt Alexander Adam, Vorsitzender des „Staatskomitees für Ökologie und natürliche Ressourcen des Tomsker Gebiets“. In seinem Büro in der Tomsker Innenstadt wurden die Reinigungsarbeiten koordiniert, nachdem es am 6. April in Tomsk-7 im Gebäude 201 der Wiederaufarbeitungsanlage zu einer Atomexplosion gekommen war (s. Kasten). Erst ganz langsam kämen jetzt die ersten US-Amerikaner wieder nach Tomsk. Adams Komitee untersteht dem russischen Umweltministerium. Sein oberster Dienstherr in Moskau kämpft zwar redlich gegen das mächtige Atomministerium. Trotzdem fühlt sich Adam den Interessen der Zentralregierung soweit verpflichtet, daß er vor allem verbale Beruhigungspillen verteilt: Die Situation in Tomsk sei völlig normal.

Alexander Adam ist sichtlich stolz darauf, wieviel er und die Tomsker Stadtregierung gegenüber dem Moskauer Atomministerium durchsetzen konnten und organisiert sofort eine Rundfahrt in die Umgebung. Der Meteorologe Slawa Tjutjunikow, der ebenfalls zum Umweltstaatskomitee gehört und regelmäßig die Meßstationen in und an der Zone überwacht, fährt zuerst zum zweiten Großverschmutzer der Region, dem Ölchemischen Kombinat.

Im Gegensatz zur „radiochemischen Fabrik“ handelt es sich hier wirklich um eine Chemiefabrik. Die alte italienische Anlage wurde 1978 nach Sibirien verfrachtet. Andernfalls, sagt Adam, wäre sie wohl verschrottet worden.

Die Chemiefabrik ist gigantisch. Rohre und Schornsteine, so weit das Auge reicht. Nicht alle Leitungen sind dicht, und aus den Schloten quillt schwarzer, grüner und gelber Rauch. Der Wind, aus Norden, bläst den Dreck in Richtung Tomsk.

Die geschlossene Stadt Tomsk-7 dann liegt mitten im Wald, hinter der Klinik für psychisch Kranke. Die Psychiatrie zeichnet sich durch Offenheit aus: Die Kranken leben ohne Mauern in traditionellen sibirischen Holzhäusern. „Die Ärzte“, erklärt Tjutjunikow, „wollen, daß diejenigen Kranken, die nicht aggressiv werden, hier ganz normal leben, mit der Natur.“

Wenige Kilometer weiter endet die Straße vor drei Meter hohen Mauern, die gekrönt sind von Stacheldrahtrollen und Wachtürmen. Kontrollschleusen erwarten die Besucher der geheimen Stadt an der Endstation des Linienbusses aus Tomsk. Hinein kommt hier nur, wer eine besondere Genehmigung hat.

Zwischen Tomsk-7 und der Chemiefabrik liegen Kartoffelfelder und Gewächshäuser für Tomaten und Gurken. Alte Frauen sammeln in den Waldstücken dazwischen Pilze und Beeren, um sie in Tomsk am Straßenrand zu verkaufen. Denn ihre Renten hat zum großen Teil die Inflation aufgezehrt.

Die Zone der radioaktiven Verseuchung, die sich von der Mauer auf 40 Kilometern nach Nordosten erstreckt, ist an ihren Rändern ausgeschildert. „Gefährliche Zone, Betreten verboten“. Das Radioaktivitätszeichen warnt plötzlich, mitten im Wald, vor dem Weitergehen. Die Straße, anfänglich eine Schotterpiste, glänzt mit einer nagelneuen Asphaltdecke – „bezahlt von Moskau“, berichtet Adam von seinem Verhandlungserfolg.

Das Atomministerium hat danach in diesem Jahr fünf Milliarden Rubel (acht Millionen Mark) gezahlt. Ab 1994 sollen pro Jahr 37 Milliarden Rubel für Untersuchungen und weitere Reinigungsaktionen fließen.

Nach der Havarie und nach der Evakuierung der 150 Bewohner wurden die 36 Häuser des Dorfes Georgiewka, das mitten in der gefährlichen Zone liegt, gründlich abgewaschen, 300 Tonnen Erde abgefahren. Die Straße durch die verseuchte Zone bekam ihre neue Asphaltdecke, damit „der Staub nicht mehr von den Autos hochgewirbelt und verteilt wird“, erläutert Adam, der einen Doktor in Biologie hat. Die Warnschilder sollen die Einwohner der Stadt Tomsk davon abhalten, an den Wochenenden in den Wäldern innerhalb der Zone Pilze und Beeren zu sammeln. Auch die Straße zwischen Georgiewka und Naumowka soll demnächst asphaltiert werden.

In Georgiewka ist laut Adam jetzt, nach der Reinigung, alles wieder normal. In der ganzen Gegend werde ständig gemessen. Sicherheitshalber habe man aber die Familien mit Kindern noch außerhalb der Zone in Naumowka untergebracht. „In Georgiewka und Naumowka haben wir Meßstationen eingerichtet, wo die Leute ihr Gemüse aus den Gärten untersuchen lassen können“, sagt Adam, dessen eigene Datscha ziemlich nah an der Strahlenzone liegt. Außerhalb der Gefahrenzone, versichert er, sei aber alles normal.

Und wenn der Wind am 6. April anders gestanden hätte? „Nun ja“, Adam zögert. „Meistens bläst er ja aus Südwest.“ Und sollte man das Kombinat nicht lieber stillegen? „Das geht nicht so ohne weiteres“, meint der Vertreter des Umweltministeriums. Denn die Stadt Tomsk bezieht 40 Prozent ihres Stroms aus dem Kombinat. Außerdem würde sich das zivile Atommüllproblem vergrößern, wenn die Brennelemente des Stromreaktors „Tez 3“ nicht mehr in Tomsk-7 wiederaufgearbeitet werden könnten.

„Sanieren kann man das Gelände sowieso nicht, das strahlt noch mindestens 35 Millionen Jahre“, erklärt Adam. Es gebe aber eine Expertenkommission, die all diese Probleme untersuchen würde. Immer mal wieder sei im Gespräch, einen neuen zivilen Atomreaktor zusammen mit der französischen Reaktorschmiede Cogema zu bauen. Außerdem gebe es Überlegungen, gemeinsam mit den Amerikanern das Plutonium aus Atomwaffen statt Uran zur Stromerzeugung einzusetzen. Das alles seien aber bisher nur Überlegungen.

Jedesmal, wenn die Expertenkommission mit ihren Überlegungen erwähnt wird, bekommt Walerij Konjaschkin einen Wutanfall. Konjaschkin ist Mitbegründer der „Ökologischen Initiative“ und seit einigen Monaten auch Umweltbeauftragter des Tomsker Stadtsowjets. In seinem Büro im Gebäude der Stadtverwaltung sammelt er alle verfügbaren Informationen über das „Chemiekombinat“, weist auf Lücken und Widersprüche hin und schreibt Artikel für die Lokalzeitung Tomsker Bote, die der Stadtsowjet herausgibt.

Einer der Widersprüche ist für ihn die angeblich unabhängige Expertenkommission. Deren Vorsitzender ist einer der führenden Wissenschaftler des SCK. „Der wird ja wohl seinen Arbeitsplatz nicht abschaffen wollen“, ärgert sich Konjaschkin. „Allein schon wegen Investoren aus dem Westen, die jetzt einen großen Bogen um Tomsk machen, schadet uns die Existenz des Kombinats.“

Anstelle der Prediger westlichen Marktwirtschaftens logiert nun für zwei Wochen eine fünfköpfige Delegation der Adventisten aus dem US-Staat Oregon im Hotel „Oktober“. Ihr Ziel ist, dem neu gegründeten Ableger ihrer Sekte beim Aufbau einer Organisationsstruktur zu helfen, wie eine Mittfünfzigerin namens Betty erläutert. Die Radioaktivität? „Oh, wir haben unser eigenes Wasser mitgebracht und vermeiden frisches Obst und Gemüse aus der Gegend“, meint Betty fröhlich. Und die Tomsker, die sich taufen ließen, würden alle gleich sehr viel glücklicher aussehen.

Die Rezeptionistin Tamara Alexejewa geht trotzdem lieber in die gerade renovierte orthodoxe Kirche. Ihr Sohn lebt mit Frau und dem neugeborenen Enkelkind in Tomsk-7. Die Radioaktivität? „Sie sagen ja, daß in Tomsk-7 alles normal ist, und mein Sohn hat dort eine schöne große Wohnung.“

Tamara Alexejewa vermutet aber, daß die Berichte über den Unfall der Grund sind, daß ein deutscher Großbäcker, einst Stammgast im „Oktober“, seit Monaten nicht mehr nach Tomsk gekommen ist. Die Bäckerei, an der er sich im Joint-venture beteiligt hat, liegt in einem Neubauviertel nahe der Innenstadt, für Alexejewa auf dem Weg vom Hotel „Oktober“ zu ihrer Wohnung. „Dort gibt es das beste Brot von Tomsk“, meint sie. Der Laden ist im rustikal-skandinavischen Stil mit viel Holz renoviert, die Wände sind geschmückt mit den sattsam bekannten Postern deutscher Bäckerinnungen: „So vital mit Sovital“; „So frisch, da muß man einfach reinbeißen!“ Vor dem Reinbeißen jedoch heißt's warten, bis das Brot, es gibt nur eine Sorte, aus dem Backofen kommt. In einer der Vitrinen verlieren sich ein paar übriggebliebene Schoko-Weihnachtsmänner eines deutschen Herstellers, für die sich keiner der Wartenden interessiert.

Überall in den Tomsker Geschäften ist das Warenangebot geringer als in anderen sibirischen Großstädten. Westinvestoren, davon hat Walerij Konjaschkin inzwischen den Stadtsowjet überzeugt, werden „wohl erst dann wieder nach Tomsk kommen, wenn das Kombinat stillgelegt wird“. Die Entscheidung darüber will die Ökologische Initiative per Referendum durchsetzen.

Bis es zum Referendum kommt, stellt Konjaschkin vor allem Fragen: „Auf den Blättern der Bäume in der Zone wurden Radionuklide gefunden. Was also macht die Moskauer Behörden, denen Tomsk-7 untersteht, so sicher, daß dieser Staub nicht aus der Zone hinausgeweht wird? Und wenn doch alles normal ist, wieso schlug im Mai plötzlich mein Dosimeter zu Hause auf dem Balkon aus? Wie kommt es, daß der erste Untersuchungsbericht (siehe Kasten) noch zu gewisser Vorsicht rät, der zweite aber, auf Basis der Daten des ersten Berichts das Ergebnis ,Alles normal‘ vertritt?“

Alarmiert war die Ökologische Initiative auch, als im Dorf Schwarzbach, das 20 Kilometer hinter dem offiziellen Ende der Zone liegt, das Plutonium-Zerfallsprodukt Americium gefunden wurde. Denn nach der Havarie hatte das Moskauer Atomministerium jede Plutoniumbelastung durch „das Vorkommnis“ abgestritten. „Entweder also lügen die Experten, oder das Americium stammt aus einer der früheren Havarien“, meint Konjaschkin.

23 „technische Vorkommnisse“, bei denen Radioaktivität freigesetzt wurde, hat der Direktor des Kombinats, Gennadij Chandorin, inzwischen öffentlich zugegeben. Welcher Art die Unfälle waren und wie hoch die Belastung war, ist jedoch bis heute sein Geheimnis.

Und weil Tomsk-7 offiziell „Moskauer Gebiet“ ist, rätseln die städtischen Behörden genauso wie die Bevölkerung, was hinter den Mauern, Türmen und Stacheldrahtverhauen von Tomsk-7 wirklich geschieht und geschehen ist.

„Wenn das Kombinat Moskauer Gebiet ist, dann sollen sie doch gefälligst auch die Radioaktivität auf Moskauer Gebiet begrenzen“, lästert Konjaschkin.

Doch selbst ohne weitere „technische Vorkommnisse“ belastet Moskaus entferntester Vorort seine sibirische Umwelt. Aus dem Atommüllager am Rande des „Moskauer Gebiets“ sickert Radioaktivität langsam ins Grundwasser – genau in die Schichten, aus denen die Stadt Tomsk ihr Trinkwasser entnimmt. Heute sei die Wasserqualität normal, meint sogar Konjaschkin. „Aber wer weiß schon, wie sie in drei bis vier Jahren sein wird?“

Am Abend zeigt das Lokalfernsehen einen Film über Tomsk-7. Die verbotene Stadt feiert ihr 40jähriges Bestehen. Das Fernsehen zeigt alte Bilder, von der offiziellen Einweihung des ersten Plutoniumreaktors „Iwan I“ vor 36 Jahren, und neue: moderne Wohnblocks, Frauen mit Kinderwagen, die Musikschule, eine Bibliothek. Hinter Gittern und Zäunen, abgeschirmt durch drei Kontrollschleusen, sollen „unsere Leute so normal leben wie möglich“, sagt der Direktor in die Kamera. Auch am Ufer des Tom wachen Soldaten – ohne Schutzkleidung, aber mit Maschinenpistolen bewaffnet. In Höhe des Kombinats, berichtet der Reporter, friert im Winter, bei Temperaturen bis minus 40 Grad, das Wasser nicht mehr zu. Es ist radioaktiv verseucht.

Das normale Leben in Tomsk-7 ist kurz. Die Toten des vergangenen Jahres „starben in der Blüte ihres Lebens“ schreibt der Tomsker Bote, „mit 59, 41, 64, 60, 38, 57, 49, 54, 39 und 51 Jahren“. Der leitende Arzt des Kombinats, Alexander Masluk, gab der Journalistin Irina Schilawskaja die folgende Begründung: „Tomsk-7 ist eine junge Stadt, es gibt nur wenige alte Leute, deshalb sind auch unsere Toten jung.“

Am nächsten Tag besuche ich Tamara Matkowskaja, Professorin für Kindermedizin, in ihrem Büro und Sprechzimmer im Tomsker „Krankenhaus Nr. 3“. Auch sie ist, wie mehrere andere Medizinprofessoren, Mitglied der Ökologischen Initiative. „Die Gesundheit der Bevölkerung ist hier nicht nur durch das SCK bedroht, sondern auch durch das Ölchemische Kombinat“, sagt sie.

Seit Jahren führt die Professorin Statistiken über die Krankheiten der Kinder, die zu ihr in die Klinik gebracht werden. Gerade in den nördlichen Stadtvierteln, die am nächsten an der Chemiefabrik liegen, haben danach die Fälle von schwerer chronischer Bronchitis und Lungenentzündung deutlich zugenommen. Matkowskaja fürchtet, daß zusätzlich zur Luftverschmutzung die radioaktive Belastung der Umgebung und der Nahrung das Immunsystem der Kinder schwächt. „Ich kann ja nicht einmal hier im Krankenhaus dafür garantieren, daß die Nahrung unbelastet ist.“

Große Sorge bereiten ihr auch die Americium-Funde in Schwarzbach. „Ich befürchte, daß die Kinder aus den Dörfern, die in der Hauptwindrichtung vom SCK liegen, gewisse Dosen Plutonium abbekommen haben“, sagt die Ärztin. „Aber wie behandelt man Plutoniumvergiftung? Darüber gibt es meines Wissens nirgendwo auf der Welt Literatur.“

Die Beruhigungspillen des Alexander Adam mag nicht einmal sein eigenes Team mehr schlucken. „In Wirklichkeit“, sagt der Meteorologe Slawa Tjutjunikow, „ist es hier doch längst nicht so normal, wie der Kollege Sascha sagt.“

Er selbst habe schließlich zwei Examen in Physik und mache sich darum durchaus Gedanken um seine Gesundheit. „Ich war damals einer der ersten hier im Schnee. Heute bin ich froh, daß ich schon 45 bin und keine Kinder mehr zeugen will.“ Im SCK sollten endlich auch die letzten beiden der fünf Reaktoren stillgelegt werden. „Wer braucht denn heute noch das Produkt dieser Firma?“ Plutonium für Atombomben.

Adam, der einen Doktor in Biologie hat. Die Warnschilder sollen die Einwohner der Stadt Tomsk davon abhalten, an den Wochenenden in den Wäldern innerhalb der Zone Pilze und Beeren zu sammeln. Auch die Straße zwischen Georgiewka und Naumowka soll demnächst asphaltiert werden.

In Georgiewka ist laut Adam jetzt, nach der Reinigung, alles wieder normal. In der ganzen Gegend werde ständig gemessen. Sicherheitshalber habe man aber die Familien mit Kindern noch außerhalb der Zone in Naumowka untergebracht. „In Georgiewka und Naumowka haben wir Meßstationen eingerichtet, wo die Leute ihr Gemüse aus den Gärten untersuchen lassen können“, sagt Adam, dessen eigene Datscha ziemlich nah an der Strahlenzone liegt. Außerhalb der Gefahrenzone, versichert er, sei aber alles normal.

Und wenn der Wind am 6. April anders gestanden hätte? „Nun ja“, Adam zögert. „Meistens bläst er ja aus Südwest.“ Und sollte man das Kombinat nicht lieber stillegen? „Das geht nicht so ohne weiteres“, meint der Vertreter des Umweltministeriums. Denn die Stadt Tomsk bezieht 40 Prozent ihres Stroms aus dem Kombinat. Außerdem würde sich das zivile Atommüllproblem vergrößern, wenn die Brennelemente des Stromreaktors „Tez 3“ nicht mehr in Tomsk-7 wiederaufgearbeitet werden könnten.

„Sanieren kann man das Gelände sowieso nicht, das strahlt noch mindestens 35 Millionen Jahre“, erklärt Adam. Es gebe aber eine Expertenkommission, die all diese Probleme untersuchen würde. Immer mal wieder sei im Gespräch, einen neuen zivilen Atomreaktor zusammen mit der französischen Reaktorschmiede Cogema zu bauen. Außerdem gebe es Überlegungen, gemeinsam mit den Amerikanern das Plutonium aus Atomwaffen statt Uran zur Stromerzeugung einzusetzen. Das alles seien aber bisher nur Überlegungen.

Jedesmal, wenn die Expertenkommission mit ihren Überlegungen erwähnt wird, bekommt Walerij Konjaschkin einen Wutanfall. Konjaschkin ist Mitbegründer der „Ökologischen Initiative“ und seit einigen Monaten auch Umweltbeauftragter des Tomsker Stadtsowjets. In seinem Büro im Gebäude der Stadtverwaltung sammelt er alle verfügbaren Informationen über das „Chemiekombinat“, weist auf Lücken und Widersprüche hin und schreibt Artikel für die Lokalzeitung Tomsker Bote, die der Stadtsowjet herausgibt.

Einer der Widersprüche ist für ihn die angeblich unabhängige Expertenkommission. Deren Vorsitzender ist einer der führenden Wissenschaftler des SCK. „Der wird ja wohl seinen Arbeitsplatz nicht abschaffen wollen“, ärgert sich Konjaschkin. „Allein schon wegen Investoren aus dem Westen, die jetzt einen großen Bogen um Tomsk machen, schadet uns die Existenz des Kombinats.“

Anstelle der Prediger westlichen Marktwirtschaftens logiert nun für zwei Wochen eine fünfköpfige Delegation der Adventisten aus dem US-Staat Oregon im Hotel „Oktober“. Ihr Ziel ist, dem neu gegründeten Ableger ihrer Sekte beim Aufbau einer Organisationsstruktur zu helfen, wie eine Mittfünfzigerin namens Betty erläutert. Die Radioaktivität? „Oh, wir haben unser eigenes Wasser mitgebracht und vermeiden frisches Obst und Gemüse aus der Gegend“, meint Betty fröhlich. Und die Tomsker, die sich taufen ließen, würden alle gleich sehr viel glücklicher aussehen.

Die Rezeptionistin Tamara Alexejewa geht trotzdem lieber in die gerade renovierte orthodoxe Kirche. Ihr Sohn lebt mit Frau und dem neugeborenen Enkelkind in Tomsk-7. Die Radioaktivität? „Sie sagen ja, daß in Tomsk-7 alles normal ist, und mein Sohn hat dort eine schöne große Wohnung.“

Tamara Alexejewa vermutet aber, daß die Berichte über den Unfall der Grund sind, daß ein deutscher Großbäcker, einst Stammgast im „Oktober“, seit Monaten nicht mehr nach Tomsk gekommen ist. Die Bäckerei, an der er sich im Joint-venture beteiligt hat, liegt in einem Neubauviertel nahe der Innenstadt, für Alexejewa auf dem Weg vom Hotel „Oktober“ zu ihrer Wohnung. „Dort gibt es das beste Brot von Tomsk“, meint sie. Der Laden ist im rustikal-skandinavischen Stil mit viel Holz renoviert, die Wände sind geschmückt mit den sattsam bekannten Postern deutscher Bäckerinnungen: „So vital mit Sovital“; „So frisch, da muß man einfach reinbeißen!“ Vor dem Reinbeißen jedoch heißt's warten, bis das Brot, es gibt nur eine Sorte, aus dem Backofen kommt. In einer der Vitrinen verlieren sich ein paar übriggebliebene Schoko-Weihnachtsmänner eines deutschen Herstellers, für die sich keiner der Wartenden interessiert.

Überall in den Tomsker Geschäften ist das Warenangebot geringer als in anderen sibirischen Großstädten. Westinvestoren, davon hat Walerij Konjaschkin inzwischen den Stadtsowjet überzeugt, werden „wohl erst dann wieder nach Tomsk kommen, wenn das Kombinat stillgelegt wird“. Die Entscheidung darüber will die Ökologische Initiative per Referendum durchsetzen.

Bis es zum Referendum kommt, stellt Konjaschkin vor allem Fragen: „Auf den Blättern der Bäume in der Zone wurden Radionuklide gefunden. Was also macht die Moskauer Behörden, denen Tomsk-7 untersteht, so sicher, daß dieser Staub nicht aus der Zone hinausgeweht wird? Und wenn doch alles normal ist, wieso schlug im Mai plötzlich mein Dosimeter zu Hause auf dem Balkon aus? Wie kommt es, daß der erste Untersuchungsbericht (siehe Kasten) noch zu gewisser Vorsicht rät, der zweite aber, auf Basis der Daten des ersten Berichts das Ergebnis ,Alles normal‘ vertritt?“

Alarmiert war die Ökologische Initiative auch, als im Dorf Schwarzbach, das 20 Kilometer hinter dem offiziellen Ende der Zone liegt, das Plutonium-Zerfallsprodukt Americium gefunden wurde. Denn nach der Havarie hatte das Moskauer Atomministerium jede Plutoniumbelastung durch „das Vorkommnis“ abgestritten. „Entweder also lügen die Experten, oder das Americium stammt aus einer der früheren Havarien“, meint Konjaschkin.

23 „technische Vorkommnisse“, bei denen Radioaktivität freigesetzt wurde, hat der Direktor des Kombinats, Gennadij Chandorin, inzwischen öffentlich zugegeben. Welcher Art die Unfälle waren und wie hoch die Belastung war, ist jedoch bis heute sein Geheimnis.

Und weil Tomsk-7 offiziell „Moskauer Gebiet“ ist, rätseln die städtischen Behörden genauso wie die Bevölkerung, was hinter den Mauern, Türmen und Stacheldrahtverhauen von Tomsk-7 wirklich geschieht und geschehen ist.

„Wenn das Kombinat Moskauer Gebiet ist, dann sollen sie doch gefälligst auch die Radioaktivität auf Moskauer Gebiet begrenzen“, lästert Konjaschkin.

Doch selbst ohne weitere „technische Vorkommnisse“ belastet Moskaus entferntester Vorort seine sibirische Umwelt. Aus dem Atommüllager am Rande des „Moskauer Gebiets“ sickert Radioaktivität langsam ins Grundwasser – genau in die Schichten, aus denen die Stadt Tomsk ihr Trinkwasser entnimmt. Heute sei die Wasserqualität normal, meint sogar Konjaschkin. „Aber wer weiß schon, wie sie in drei bis vier Jahren sein wird?“

Am Abend zeigt das Lokalfernsehen einen Film über Tomsk-7. Die verbotene Stadt feiert ihr 40jähriges Bestehen. Das Fernsehen zeigt alte Bilder, von der offiziellen Einweihung des ersten Plutoniumreaktors „Iwan I“ vor 36 Jahren, und neue: moderne Wohnblocks, Frauen mit Kinderwagen, die Musikschule, eine Bibliothek. Hinter Gittern und Zäunen, abgeschirmt durch drei Kontrollschleusen, sollen „unsere Leute so normal leben wie möglich“, sagt der Direktor in die Kamera. Auch am Ufer des Tom wachen Soldaten – ohne Schutzkleidung, aber mit Maschinenpistolen bewaffnet. In Höhe des Kombinats, berichtet der Reporter, friert im Winter, bei Temperaturen bis minus 40 Grad, das Wasser nicht mehr zu. Es ist radioaktiv verseucht.

Das normale Leben in Tomsk-7 ist kurz. Die Toten des vergangenen Jahres „starben in der Blüte ihres Lebens“ schreibt der Tomsker Bote, „mit 59, 41, 64, 60, 38, 57, 49, 54, 39 und 51 Jahren“. Der leitende Arzt des Kombinats, Alexander Masluk, gab der Journalistin Irina Schilawskaja die folgende Begründung: „Tomsk-7 ist eine junge Stadt, es gibt nur wenige alte Leute, deshalb sind auch unsere Toten jung.“

Am nächsten Tag besuche ich Tamara Matkowskaja, Professorin für Kindermedizin, in ihrem Büro und Sprechzimmer im Tomsker „Krankenhaus Nr. 3“. Auch sie ist, wie mehrere andere Medizinprofessoren, Mitglied der Ökologischen Initiative. „Die Gesundheit der Bevölkerung ist hier nicht nur durch das SCK bedroht, sondern auch durch das Ölchemische Kombinat“, sagt sie.

Seit Jahren führt die Professorin Statistiken über die Krankheiten der Kinder, die zu ihr in die Klinik gebracht werden. Gerade in den nördlichen Stadtvierteln, die am nächsten an der Chemiefabrik liegen, haben danach die Fälle von schwerer chronischer Bronchitis und Lungenentzündung deutlich zugenommen. Matkowskaja fürchtet, daß zusätzlich zur Luftverschmutzung die radioaktive Belastung der Umgebung und der Nahrung das Immunsystem der Kinder schwächt. „Ich kann ja nicht einmal hier im Krankenhaus dafür garantieren, daß die Nahrung unbelastet ist.“

Große Sorge bereiten ihr auch die Americium-Funde in Schwarzbach. „Ich befürchte, daß die Kinder aus den Dörfern, die in der Hauptwindrichtung vom SCK liegen, gewisse Dosen Plutonium abbekommen haben“, sagt die Ärztin. „Aber wie behandelt man Plutoniumvergiftung? Darüber gibt es meines Wissens nirgendwo auf der Welt Literatur.“

Die Beruhigungspillen des Alexander Adam mag nicht einmal sein eigenes Team mehr schlucken. „In Wirklichkeit“, sagt der Meteorologe Slawa Tjutjunikow, „ist es hier doch längst nicht so normal, wie der Kollege Sascha sagt.“

Er selbst habe schließlich zwei Examen in Physik und mache sich darum durchaus Gedanken um seine Gesundheit. „Ich war damals einer der ersten hier im Schnee. Heute bin ich froh, daß ich schon 45 bin und keine Kinder mehr zeugen will.“ Im SCK sollten endlich auch die letzten beiden der fünf Reaktoren stillgelegt werden. „Wer braucht denn heute noch das Produkt dieser Firma?“ Plutonium für Atombomben.

Alexander Adam koordinierte die Reinigungsarbeiten

Stadtzentrum Tomsk, am Beginn der Leninstraße Fotos: Donata Riedel

Aus dem Atommüllager

sickert Radioaktivität

langsam ins

Grundwasser

15Hintergrund

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen