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"Mitten im Leben lernen"

■ Schulversuch gibt es seit einem Jahr "gescheiterten" SchülerInnen die Möglichkeit, einen Hauptschulabschluß zu erwerben / "Praxislernen" heißt das Konzept

„Am Anfang war die Schule eher das kleinere Übel, um doch noch einen Abschluß zu bekommen, jetzt macht's mir richtig Spaß“, sagt René. Der 18jährige Punk hat gerade die neunte Klasse zum dritten Mal gemacht und ist im August endlich in die zehnte gewechselt. René ist einer von 64 „gescheiterten“ SchülerInnen, die in dem Schulversuch „Die-Stadt- als-Schule“ den Hauptschulabschluß nun doch noch machen. Für Kreuzbergs Bildungsstadtrat Dirk Jordan (Grüne/AL) ein wichtiges Projekt: „Jedes Jahr gehen 4.000 Schüler und Schülerinnen, das sind 16 Prozent, ohne Abschluß ab.“

„Die-Stadt-als-Schule“, ein in Deutschland einmaliger Versuch, probiert seit einem Jahr, SchülerInnen andere Möglichkeiten zu geben, ihre Fähigkeiten zu entfalten: „Praxislernen“ heißt das Konzept, das allen offen steht, die mindestens einmal sitzengeblieben sind und keine Aussicht auf einen Abschluß haben. Gelernt werden soll eben nicht nur in der Schule, sondern „mitten im Leben“, wie Leiterin Dorit Grieser betont. Kern der Ausbildung sind sechs dreimonatige „Praxisplätze“, an denen sich die 15- bis 18jährigen in zwei Jahren Allgemeinbildung aneignen sollen. Ein Beispiel: „Eine Schülerin zeichnet bei einem Karikaturisten Cartoons gegen Ausländerfeindlichkeit“, sagt Dorit Griser und erklärt den Lerneffekt. „Dabei setzt sie sich gesellschaftspolitisch und künstlerisch mit Ausländerfeindlichkeit auseinander und lernt gleichzeitig zeichnen.“ Ihre MitschülerInnen bauen zum Beispiel einen Kinderstuhl in einer Theatertischlerei oder beschäftigen sich mit Akupunktur und Anatomie in einer Arztpraxis. „Dabei wollen wir weder praktisches Lernen noch eine vorgezogene Berufsausbildung sein“, erläutert die Schulleiterin. Daneben müssen die SchülerInnen „Erkundungsaufgaben“ lösen: „In einem Restaurant könnten Fragen zur gesunden Ernährung, zur Arbeitsstruktur oder zu verschiedenen Berufsbildern gestellt werden“, erläutert Pädagogin Heike Borkenhagen.

Drei Tage in der Woche sind die Jugendlichen an ihren Praxisplätzen, zwei Tage in der Schule in der Dessauer Straße in Kreuzberg. Dann stehen Mathe und Englisch, wahlweise aber auch Technik, Sprache, Kunst oder Gesellschaft auf dem Stundenplan der 16köpfigen Klassen. Hinzu kommt eine Kommunikationsgruppe, in der Wissen und Erfahrungen aus den Praxislernprojekten ausgetauscht werden. Doch auch der Unterricht ist anders: „Die Themen kommen nicht nur von vorne, wir können mitbestimmen und zum Teil frei gestalten“, erzählt René. Außerdem sei das Verhältnis zwischen LehrerInnen und SchülerInnen kooperativ und verständnisvoll.

Das Konzept, das in einem vierjährigen Modellversuch getestet und seit über 20 Jahren in der New Yorker „City-as-School“ praktiziert wird, scheint auch in Berlin erfolgreich: Von den ersten 32 SchülerInnen haben mehr als zwei Drittel den Aufstieg in die 10. Klasse geschafft und damit den Hauptschulabschluß schon in der Tasche. Neun haben nach dem ersten Jahr aufgehört und eine Ausbildung angefangen, zwei sind auf die Realschule gewechselt. Diesen Abschluß kann „Die-Stadt-als- Schule“ noch nicht vergeben. Das macht René nichts. Ihm reicht erst mal die zehnte Klasse. Wie es dann weitergehen soll, weiß er noch nicht. Sabine am Orde

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