: Arbeitszwang bringt nicht viel
40-Stunden-Woche für Leipziger Sozialhilfeempfänger verstößt gegen Bundessozialhilfegesetz / Modell Stuttgart: Tariflohn statt Sozialhilfe entlastet auf Dauer den kommunalen Haushalt ■ Von Dorothee Winden
Berlin (taz) – „Arbeit bringt Freude und bedeutet Zukunft“ und „Arbeit ist, am Abend zu wissen, warum man morgens aufgestanden ist“, verhieß der gelbe Zettel, mit dem Rainer Müller im Juli aufgefordert wurde, sich zum Arbeitseinsatz zu melden. Dem 27jährigen, der nach dem Theologiestudium auf Sozialhilfe angewiesen war, drohte die Sachbearbeiterin damit, daß ihm die Sozialhilfe gekürzt werde, wenn er sich weigere.
Für zwei Mark die Stunde sollte er Grünflächen pflegen, öffentliche Gebäude reinigen, Wege mauern, Schulen renovieren oder Waldwege in Ordnung halten. Der Theologe landete in der Maurer- Gruppe. Morgens um 7 Uhr mußte er beim ABM-Stützpunkt der Stadt Leipzig antreten. Nach einer Anwesenheitskontrolle wurden die Sozialhilfeempfänger an ihre Einsatzorte verfrachtet. Der Lohn einer 40-Stunden-Woche: monatlich 320 Mark zusätzlich zur Sozialhilfe. Rainer Müller legte Widerspruch ein.
„Arbeit für Leipzig“ heißt das umstrittene Programm, das seit Mai läuft. Nach Angaben der Stadtverwaltung haben von den 500 Sozialhilfeempfängern, die angeschrieben wurden, nur 70 die Arbeit angenommen. „Es geht nicht darum, Sozialhilfeempfänger einfach so zu beschäftigen, sondern die Leute aus sozialpolitischen Gründen aus der Sozialhilfe rauszubekommen“, verteidigt Manfred Münz vom Leipziger Sozialamt die Maßnahme.
Doch die Realität sieht anders aus. Die Pläne, Sozialhilfeempfänger nach einer Übergangszeit von vier Wochen bis drei Monaten in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu übernehmen, konnten bislang nicht realisiert werden. Es fehlen laut Münz nicht nur geeignete Arbeitsplätze, sondern auch ein entsprechender Beschluß der Stadtverwaltung stünde noch aus. Von der angestrebten Qualifikation der Sozialhilfeempfänger also keine Spur. Was Münz als „Qualifizierung zum Gabelstaplerfahrer“ anpreist, entpuppt sich zudem als einwöchiger Lehrgang, der mit einem Zertifikat belohnt wird, das nicht einmal die Handwerkskammer anerkennt. Gleiches gilt für den dreitägigen Motorsäge-Lehrgang.
Zudem verstößt der Arbeitseinsatz im Umfang von 40 Stunden in der Woche gegen die Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes: Bereits 1983 urteilte das Bundesverwaltungsgericht, daß Sozialhilfeempfänger höchstens 20 Stunden in der Woche zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen werden dürfen. Deshalb sei der Arbeitseinsatz auch freiwillig, betont Münz. Nur „in einem einzigen Fall“ sei bisher die Sozialhilfe gekürzt worden, doch dafür hätten neben der Arbeitsverweigerung noch andere Gründe vorgelegen.
Wenn es nach der Bundesregierung geht, sollen Kommunen künftig verstärkt Sozialhilfeempfänger zu gemeinnützigen Arbeiten heranziehen. Dies ist schon nach dem jetzigen Bundessozialhilfegesetz (BSHG) möglich. Doch mit verschärften Vorschriften will Bonn vermeintliche Schmarotzer aus der sozialen Hängematte werfen. Zusammen mit dem Sparpaket verabschiedete der Bundestag letzte Woche, daß die von Sozialhilfeempfängern ausgeübten Tätigkeiten künftig nicht mehr „zusätzlich“ sein müssen. Die Gemeinden können sie damit auch für Pflichtaufgaben der Kommunen einsetzen. Außerdem lautet eine bisherige Soll-Bestimmung künftig: für junge Sozialhilfeempfänger „sind Arbeitsgelegenheiten zu schaffen“.
Die verschärfte Arbeitspflicht stößt nicht nur bei der SPD auf Widerstand, die die Neuregelung im Bundesrat noch zu Fall bringen könnte. Auch die „Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut“ haben für diesen Freitag in über 50 Städten Aktionen gegen Sozialkürzungen und verschärfte Arbeitsverpflichtung angekündigt.
Protest kam diesmal auch von einer Seite, von der dies nicht zu erwarten war – den Kommunen. Sie befürchteten, daß die neue Vorschrift den Sozialhilfeempfängern einen Rechtsanspruch auf einen Arbeitsplatz gewähren könnte. Zwar wies Familienministerin Rönsch dies zurück, doch sehen sich die Kommunen weder organisatorisch noch finanziell in der Lage, im großen Stil Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Gegenwärtig stehen für eine Million arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger 20.000 bis 30.000 gemeinnützige Arbeitsplätze zur Verfügung.
Ohnehin haben viele Kommunen längst erkannt, daß die Verpflichtung von Sozialhilfeempfängern zu gemeinnütziger Arbeit nichts bringt – denn weder entlastet sie die kommunalen Haushalte, noch bietet sie den Betroffenen die Möglichkeit, von der Sozialhilfe loszukommen. „Wir haben das mal überlegt und durchgerechnet und sind dann davon abgekommen“, sagt Volker Lubinski, der beim Stuttgarter Sozialamt das Programm „Hilfe zur Arbeit“ koordiniert. Statt dessen hat man sich entschieden, die gegenwärtig 606 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze für Sozialhilfeempfänger um weitere 200 aufzustocken.
Ähnliche Programme gibt es auch in anderen Bundesländern. Der erhoffte Doppeleffekt: die Hilfeempfänger bekommen nicht nur die Chance, wieder ins Arbeitsleben einzusteigen, sondern haben nach einem Jahr auch wieder Anspruch auf Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit. Der Sozialhilfeetat wird bereits mittelfristig entlastet – und das ist für die Kommunen angesichts leerer Kassen von höchstem Interesse. Die nicht unerheblichen Kosten für ein solches Programm amortisieren sich erfahrungsgemäß innerhalb weniger Jahre.
20 Millionen Mark läßt sich die Stadt Stuttgart das Programm jährlich kosten. Ziel ist nicht nur, die Sozialhilfeempfänger zu qualifizieren, sondern auch persönliche und soziale Probleme zu lösen. Denn nur so besteht die Aussicht, sie innerhalb der Höchstförderdauer von anderthalb Jahren wieder ins Arbeitsleben zu integrieren. Die von freien Trägern angebotenen Tätigkeiten reichen von Textilrecycling und ökologischen Arbeiten im Forstbereich bis zur Montage von Elektronikteilen im Auftrag eines Elektrokonzerns.
Die Erfolgsaussichten schätzt Lubinski so ein: „Ein Drittel der Leute kann durch die Qualifizierung eventuell wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden, ein Drittel kriegen wir nicht mehr aus der Sozialhilfe raus, und ein Drittel kommt und geht.“ Nach einer Lösung, wie sich dieser „Drehtüreffekt“ verhindern läßt, sucht man auch in Stuttgart noch.
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