: Mielke-Urteil: Mord vor 62 Jahren
■ Ex-Stasi-Chef Erich Mielke wegen Polizistenmordes anno 1931 zu sechs Jahren Haft verurteilt
Berlin (taz) – Siebenundachtzigmal hatten die Saalwachtmeister die Strafsache „1Kap Js 1655/90 Ks“ zur Verhandlung aufgerufen, sechsmal hatten Staatsanwälte, Nebenkläger und Verteidiger plädiert, „Freispruch“ oder „Lebenslänglich“ gefordert, sechsmal waren sie auf Beschluß des Schwurgerichts wieder in die notwendigerweise brüchige Beweisaufnahme eingetreten, bis der Vorsitzende Richter, Dr. Theodor Seidel, gestern nun – nach 20 Monaten – endlich das Urteil sprach: „Wegen gemeinschaftlich begangenem Mord in zwei Fällen und versuchtem Mord in einem Fall“ verurteilte die 23. Große Strafkammer des Berliner Landgerichts Erich Mielke zu sechs Jahren Haft. Ein „unglaublicher Fauxpas“, wie einer der Verteidiger feststellte, aber angesichts des Schuldspruchs doch ein ungewöhnlich mildes Urteil. Seidel begründete dies mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem „hohen Maß an Außergewöhnlichem“, das diesen Prozeß gekennzeichnet habe. Denn der Mord ereignete sich vor 62 Jahren auf dem Berliner Bülowplatz (später Horst-Wessel-, heute Rosa-Luxemburg-Platz). Opfer wurden die Polizeioffiziere Paul Anlauf und Franz Lenk. Anlauf war als Leiter des 7. Polizeireviers für die KPD-Zentrale zuständig, war Haßobjekt par excellence. Lenk starb, weil er zufällig Anlauf begleitete. Die Schüsse wurden von hinten aus etwa einem Meter Entfernung abgegeben. Die Morde sollten zur Destabilisierung der damals noch SPD-geführten Regierung Preußens beitragen: An demselben verhängnisvollen 9.August 1931 wurde über den Volksentscheid zum Sturz der preußischen Regierung abgestimmt, den NSDAP und KPD gemeinsam unterstützten.
Die „feige und hinterhältige“ Tat mußte, so Seidel, „kraft Gesetz“ verhandelt werden. Selbstverständlich könne „nur die Schuld gewertet werden, die der Doppelmörder Mielke 1931 auf sich geladen hat“, die späteren Taten des Angeklagten müßten wohl der Geschichtsschreibung überlassen bleiben. Da gegen Erich Mielke noch zwei Haftbefehle vorliegen – einer wegen Telefonüberwachung und einer wegen der Toten an der Mauer –, wird es gegen ihn mit Sicherheit keinen Strafprozeß mehr geben, der den Mißbrauch der Staatsmacht am Beispiel Stasi prozessual erörtert. Ungesühnt bleiben die Taten Mielkes, die so zu umschreiben wären: Die Unterdrückung, Funktionalisierung und Bevormundung des Menschen durch den Menschen; der permanente Versuch, Individualität und persönliche Freiheit zu enteignen, den einzelnen Menschen regelrecht zu verstaatlichen; die alltägliche Gegenwart, die totalitäre Realität „Stasi“.
Dennoch war auch das gestern abgeschlossene Verfahren kein Ausweichen, es wurde zum Exempel einer deutschen Epoche. Und dann – wichtig genug – war da noch die Nebenklägerin Dora Zimmermann, die einzige noch lebende Tochter Anlaufs. Der Tod des Vaters hatte sie im Alter von elf Jahren zur Vollwaise gemacht, wie Seidel betonte, und fügte hinzu: „Das scheint für manche Kritiker des Verfahrens eine Lappalie zu sein.“ Mielkes Verteidiger kündigten an, gegen das Urteil Revision einzulegen.
Tagesthema Seite 3, Kommentar Seite 10
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