Die Angst vor dem Freudentag

Noch ist unsicher, ob und wann Präsident Aristide nach Haiti zurückkehren kann / Aus Furcht vor der Armee haben sich viele BewohnerInnen aus der Cité Soleil geflüchtet  ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

Cité Soleil hat heute nur halb soviel Einwohner wie normalerweise. Jeder zweite ist in den letzten Wochen in die Provinz aufgebrochen, um irgendwo Unterschlupf zu suchen. Denn die sehnlich erwartete Rückkehr des vor zwei Jahren weggeputschten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide wird für die Armen nicht nur ein Freudentag sein. „Wenn er kommt, wird es hier ein Massaker geben wie im November 1987“, fürchtet Michel Alphonse, einer der vielen jungen Männer, die von Gelegenheitsarbeit leben.

Die Armee und die rechtsextreme „Front für die Aktion und den Fortschritt Haitis“ (FRAPR) haben bereits Repressalien gegen die Einwohner des riesigen Slums angekündigt, die bei den Wahlen vom Dezember 1990 fast geschlossen für Jean-Bertrand Aristide gestimmt hatten.

Cité Soleil, die Sonnenstadt, das klingt wie Sun City, das exklusive Vergnügungszentrum für Millionäre in Südafrika. Ein größerer Kontrast ist aber kaum vorstellbar. 300.000 Menschen leben hier zusammengepfercht zwischen Port- au-Prince und dem Meer, untergebracht in engen Behausungen, die zum Teil aus altem Blech und morschen Brettern zusammengezimmert wurden. Kanalisation ist hier unbekannt. Die zum Himmel stinkenden Abwässer fließen in offenen Kanälen an den Häusern entlang und stauen sich auf den sumpfigen Brachflächen. Die Menschen verrichten ihre Notdurft in aller Öffentlichkeit auf Abfallhalden, an Straßenecken oder einfach hinter dem Haus. Wasser müssen die meisten 25 bis 30 Minuten entfernt bei einer öffentlichen Wasserstelle holen. Trotz der Warnungen internationaler Gesundheitsorganisationen kochen es die wenigsten ab. Denn Brennstoff ist teuer.

„Die Mikroben töten keinen Haitianer“, heißt ein viel zitiertes Sprichwort. Doch Denis, ein französischer Krankenhelfer, der seit vielen Jahren in Cité Soleil arbeitet, ist anderer Meinung: „Durch die Parasiten werden die Menschen so geschwächt, daß sie an jeder harmlosen Krankheit sterben können.“ Die Impfkampagnen des in Cité Soleil arbeitenden „Centre pour le Développement et la Santé“ (CDS) finden nicht häufig und systematisch genug statt, sagen Leute, die für humanitäre Organisationen arbeiten, einhellig. Der Direktor, der sich vor kurzem eine protzige Villa bauen ließ, wird beschuldigt, sich an Hilfsgeldern zu bereichern.

Auch das Schulwesen spottet jeder Beschreibung. Zwar gibt es jede Menge Schulen, doch lernen die meisten dort in vier Jahren Grundschule gerade Lesen und Schreiben. Als Lehrer fungieren Arbeitslose, die ein symbolisches Gehalt von 70 Dollar im Monat beziehen. Die Eltern schicken ihre Kinder hin, um sie aus dem Haus zu haben und damit sie sich mit der Mahlzeit, die nach dem Unterricht ausgegeben wird, sättigen. Zu Hause gibt es nicht immer zu essen. Denn ein Pfund Reis kostet vier Gourdes (etwa 60 Pfennig). Ein Dreipersonenhaushalt verbraucht täglich mindestens eineinhalb Pfund. Die meisten Familien aber sind wesentlich größer. Denn obwohl überall für Familienplanung geworben wird, ist auch in Haiti der Kinderreichtum ein Markenzeichen der Armen.

Cité Soleil hieß früher Cité Simone, benannt nach der Frau des Diktators François Duvalier, die auf diese Art ihre Verbundenheit mit den Armen demonstrieren wollte. Genausowenig ernsthaft sind die Solidaritätsbezeugungen der meisten Diplomaten. Auch der noch keine zwei Wochen amtierende William Swing war vor ein paar Tagen da, um die von der US- Hilfsorganisation AID finanzierte Kanalräumung zu begutachten. Als ihm die Einwohner mit ihren Problemen kommen wollten, suchte er schnell das Weite.

Arbeit hat kaum jemand in Cité Soleil. Die wenigsten haben etwas gelernt, und kaum einer hat Hoffnung, jemals aus den Slums herauszukommen. Viele suchen daher Halt in den unzähligen protestantischen Kirchen, die ein besseres Dasein im Jenseits verheißen. Andere haben sich politisch engagiert, hoffen auf die Revolution des ehemaligen Salesianerpaters Aristide. Die Salesianer gehören zu den katholischen Orden, die am meisten Sozialarbeit in Haiti leisten.

Und der soziale Gerechtigkeit predigende Aristide war für die Leute in Cité Soleil schon ein Held, lange bevor er von seinem Orden verstoßen und von den Volksbewegungen für die Präsidentschaft nominiert wurde. Die Wahlen waren in den Slums ein einziges Fest, eine euphorische Manifestation der Hoffnung, daß in Haiti mit friedlichen Mitteln eine Veränderung erreicht werden kann.

Die Militärs haben sich dafür gerächt. Ihre Spitzel denunzieren jeden, der es wagt, ein Aristide-Poster zu Hause zu haben oder in einer der Basisorganisationen aktiv ist. Kaum eine Nacht vergeht, ohne daß irgendwo ein Toter gefunden wird. „Letzte Woche haben Leute hier drei Tage gewartet, bevor sie es wagten, einen Mord anzuzeigen“, erzählt Claude, der nach dem Putsch aus Angst vor Repressalien weggezogen war.

Die Drohungen der rechtsextremen Gruppen sind äußerst ernst zu nehmen. Soldaten, die in Cité Soleil wohnen, haben bereits ihre Familien weggeschafft, weil sie wissen, daß nach dem 30. Oktober – oder dem Tag, an dem Aristide schließlich zurückkehrt – Blut fließen wird. „Widerstand?“ fragt Michel Alphonse, „was sollen wir denn machen? Wir haben keine Waffen, wir können uns bestenfalls verstecken.“ Am 30. September 1991, als die Militärs die Macht ergriffen, hätte vielleicht noch etwas gerettet werden können. „Wir waren bereit zum Aufstand und warteten nur auf ein Signal von Aristide, aber der Präsident ist ein Verfechter der Gewaltfreiheit“, meint Michel mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.