: Die Mutter und der Vagabund
■ „Fremd bin ich eingezogen...“: Schlager im Schauspielhaus
Der Titel löst den Fluchtreflex aus: Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh' ich wieder aus. Muß man sich eine Veranstaltung antun, die mit dem Wörtchen „fremd“ das aktuelle Problemfeld gleich zweimal vor sich her trägt? Die Bedenken verflogen schnell. Unter der Ägide Baumbauer scheint man offenbar im Schauspielhaus vor Betroffenheitskultur sicher zu sein. Statt einer Lehrstunde bürgerlich-liberaler Political Correctness ist Fremd bin ich... zunächst nichts weiter als ein kulinarisches Ereignis. Erst auf den zweiten Blick erweist sich der Abend als mehr – nämlich als einer der feinstmöglichen Kommentare zum Thema.
Franz Wittenbrink, der auch die angenehme Klavierbegleitung übernahm, hat in dem reichen Fundus der Volkslieder und Schlager gewühlt und manche Perle an den Tag gebracht. In der zum neuen Spielort eingerichteten Schauspielhaus-Kantine erklingt Musik von Schubert bis Tom Waits, sind Texte zu hören von Heine bis Nina Hagen. Das gut aufgelegte Schauspielerensemble zeichnet sich bei ihrem bis ins kleinste durchdachten Vortrag vor allem durch hinreißende Freude am Klischee aus.
Was die Musikauswahl unaufdringlich durchzieht, ist eben das Motiv der Fremdheit. Es erscheint als romantische Sehnsucht nach der Ferne (“Unter fernen Sternen“), als Verklärung der Heimatlosigkeit (“Der lachende Vagabund“), wie als vorsorgliche Affirmation von Heimat (“Deine Mutter bleibt immer bei dir“).
Aber auch die Fremdheit zwischen den Menschen, sprich: das Liebesleid, kommt nicht zu kurz. Schuberts Vertonung von Goethes „Gretchen am Spinnrade“ kündet ebenso herzergreifend und -zerreißend davon wie der Marilyn-Monroe-Song „River of no return“.
Sehr geachtet hat Wittenbrink auf Kontraste. Dem Schlager „Nic ist braun wie eine Kaffebohne“, in dem ein schwarzer Seemann ganz unbekümmert bewundert wird, weil er so viel Schlag bei den Frauen hat, folgt etwa „Das Lied vom Nigger Jim“, der erst im Himmel glücklich ist, weil er auf Erden nicht weiß sein kann.
Natürlich ist so ein musikalischer Abend nicht in der Lage, in den Luftkampf über den Stammtischen der Fremdenfeindlichkeit entscheidend einzugreifen. Oder etwa doch? Auf jeden Fall kann es nichts Schlechtes sein, auf Borniertheiten mit Ironie und Witz zu antworten. Und durch allen Spaß hindurch behauptet der Abend eine, wenn auch subtile Ernsthaftigkeit: Er macht erfahrbar, wie alltäglich und nah das Gefühl des Fremdseins eigentlich erscheinen müßte. Schließlich ist es mit deutlicher Schrift in das kollektive Gedächtnis der Volksweisen und Gassenhauer eingeschrieben.
Dirk Knipphals
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen