: Statt der endlosen Litanei der Gewalt
■ Die Opsahl-Kommission: Ein Experiment in Nordirland versucht, Kommunikationsbarrieren zu durchbrechen
Die „Opsahl-Untersuchungskommission zu Nordirland“ wurde ins Leben gerufen von der in Belfast ansässigen Bürgerinitiative „Initiative 92“ und ihren Vätern Robin Wilson, Herausgeber der Belfaster Zeitschrift Fortnight, und Simon Lee, Dekan der juristischen Fakultät von Queen's University, Belfast. Sie befürchteten eine Entwicklung, in der die Bevölkerung Nordirlands vollends nur noch Zuschauer ihres eigenen Dramas werden könnte, dessen Inszenierung von weit entfernten Regierungsbeamten und gewalttätigen Paramilitärs vorgenommen wurde. Der leitende Gedanke der Untersuchungskommission war, daß Nordiren – und andere, die sich engagiert mit Nordirland beschäftigen – ihre Vorstellungen und Vorschläge zur Lösung der gegenwärtig so unlösbar scheinenden Situation einer Gruppe unabhängiger und international anerkannter Beobachter vortragen sollten. Dabei sollten nicht nur politische und völkerrechtliche Möglichkeiten durchgespielt werden, sondern auch ökonomische, legale, kulturelle und religiöse Vorstellungen zum Zuge kommen.
Die Kommission, die aus vier Männern und drei Frauen bestand, wurde geleitet von dem norwegischen Juraprofessor Torkel Opsahl von der Osloer Universität, einem international anerkannten Menschenrechtsexperten. [Anm. der Red.: Opsahl starb nur drei Monate nach Vorlage der Ergebnisse am 16.September 1993 in Genf, wo er der UN-Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen in Bosnien vorsaß] Ihm zur Seite standen ein früherer EG-Beobachter bei der UNO, Mr. Eamonn Gallagher, ein aus Dublin stammender Politologe von der University of Massachusetts (Boston), Padraig O'Malley, die Historikerin Marianne Elliott, die aus Belfast stammt und in London und Liverpool lehrt, die englische Soziologin und besonders gegen Kinderarmut engagierte Aktivistin Professor Ruth Lister, Lady Faulkner, Journalistin und ehemals BBC-Governor, Witwe des letzten nordirischen Premierministers, und Reverend Dr. Eric Gallagher, ökumenisch engagierter Friedensaktivist und früheres Oberhaupt der Methodistischen Kirche Nordirlands.
Die Arbeit der Kommission und ihres kleinen Sekretariats begann im Mai 1992, finanziell unterstützt von Stiftungsgeldern aus Irland und Großbritannien. Die Sommermonate verbrachten die Mitarbeiter auf Reisen kreuz und quer durch Nordirland, um „normale“ Menschen dazu zu überreden, ihre Vorstellungen, Hoffnungen und Befürchtungen diesem ungewöhnlichen Forum vorzutragen; das Mißtrauen, auf das sie dabei zunächst stießen, war groß und oft verständlich genug.
Unter denen, die ihrem Aufruf schließlich folgten, waren Frauen- und Nachbarschaftsgruppen sowohl aus unionistischem als auch nationalistischem Lager, Paramilitärs von beiden Seiten, Bischöfe, Priester und Prediger, Gemeinderäte, Akademiker, Schüler, Taxifahrer, Bankdirektoren und Gefangene, Gewerkschafter und Beamte, Journalisten und Offiziere. Friedens- und Versöhnungsgruppen, Bürgerrechtler und Politiker von nahezu allen politischen Parteien Nordirlands, einschließlich Sinn Féin und der Ulster Defence Association (UDA) [Anm. d.R.: d.h. der jeweiligen Schutzorganisation paramilitärischer Einheiten von IRA und UFF].
Auch der zweite Teil des Prozesses, die öffentliche Anhörung von 200 durch die Kommissionsmitglieder ausgewählten Beiträgen in Rathäusern und Schulen in ganz Nordirland, erreichte ein hohes Maß an Beteiligung und gehaltvollen Diskutierens. Sechs Wochen lang wurden Vorschläge diskutiert und den Autoren Gelegenheit gegeben, ihre Vorstellungen detailliert auszuführen.
Nicht wenige dieser Stimmen hörte man in der Öffentlichkeit zum ersten Mal. Wer hatte schon je von einer Gruppe protestantischer und katholischer Frauen aus Nord- Belfast gehört, einer der am strengsten und gewaltsamsten segregierten Nachbarschaften des Landes, die hier über Nachbarschaftshilfe sprachen und ihre erfolgreichen Versuche, gemeinsam die Lebensqualität ihrer Familien zu verbessern?
Andere kämpften sich aus eigener Etabliertheit durch zu neuen Einsichten – so der radikale katholische Priester Denis Faul, der sich zur Notwendigkeit einer legitimen Kommunalverwaltung bekannte, und der Sohn und politische Erbe Ian Paisleys, der sich für eine Reformierung des strafrechtlichen Prozesses aussprach. Was auch immer gesagt wurde – entscheidend war, daß, wer sprach, darauf vertraute, daß dieses Forum unabhängiger Bürger ein Ort ist, um gehört zu werden. Und so waren auch die 3.000 Exemplare des Opsahl-Reports, unter dem Titel „A Citizens' Inquiry“ – in Zusammenarbeit mit Lilliput Press, Dublin, erschienen – innerhalb von drei Monaten ausverkauft.
Die offizielle Reaktion auf den Ergebnisbericht war sowohl von politischer als auch publizistischer Seite negativ. Man konzentrierte sich in seiner Kritik auf zwei Themen – und ignorierte damit alle anderen, auf immerhin 464 Seiten vorgestellten Vorschläge. Stein des Anstoßes für die nordirischen Kritiker – die Briten ignorierten gleich das gesamte Projekt! – waren zum einen die Plädoyers für eine nordirische Regierung, die gleiche Rechte und Pflichten der unionistischen und nationalistischen Bevölkerungsgruppen spiegelt, und zum anderen für eine Beteiligung von Sinn Féin am Gesprächsprozeß, da eine Lösung ohne sie weder von Dauer noch überhaupt eine Lösung sein würde.
Die abweisenden Reaktionen überraschten niemanden. Schließlich war einer der entscheidenden Gründe des Opsahl-Prozesses, daß so viele Gruppen und Individuen in den bestehenden politischen Parteien keine Stimme haben, die sich seit 20 Jahren vor allem wortgewaltig weigern, miteinander zu reden. Und auch die Medien des Landes, mit ihrer phantasielosen Berichterstattung über die troubles als endlose Litanei von Gewalt, haben nichts dazu beigetragen, die vielen Meinungen und Lebensweisen jenseits von Redaktion und Studio zu spiegeln.
Nicht nur einmal hörte die Kommission vom Tiefpunkt, der in den letzten Jahren erreicht wurde, nämlich dem Zusammenbruch von Sprache, ob als politisches oder persönliches Mittel zur Kommunikation. Deshalb braucht dieses Land so nötig neue Stimmen, neue Ideen. Die Opsahl-Kommission war ein Versuch, danach so offen und so gründlich wie möglich zu suchen. Andy Pollak
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