: Dröhnende Stille
Vokabular und Sprachgebrauch in Nordirland. Ein Analyseversuch ■ Von Simon Lee
„Es sind immer die Worte, die wichtigen Ereignissen eine Bahn brechen.“ Dieser Satz von Václav Havel erinnert uns an die Notwendigkeit, ernsthaft über die Sprache nachzudenken, mit der wir unseren Dialog erweitern und vertiefen können. Wir brauchen, wenn nicht neue Wörter und Sätze, so doch wenigstens eine ernsthafte Untersuchung unseres existierenden Vokabulars. Mit dieser Forderung soll nicht zu politischer Korrektheit aufgerufen oder in irgendeiner Weise eine Lanze für die Einführung einer uniformen Sprache gebrochen werden. Die Frage ist vielmehr, ob wir mit unserer Sprache in und um Nordirland so glücklich sind, wenn eine größere Genauigkeit in unseren Worten Veränderungen unserer Welt bewirken oder auch ganz einfach anerkennen könnte. Armut oder Reichtum einer Sprache beschneiden oder ermutigen auch neues Denken...
Ich konzentriere mich auf Beispiele eines Vokabulars, das insgesamt noch nicht von allen als diskussionswürdig angesehen wird. Da sind zunächst Ausdrücke wie the two communities (die zwei Gemeinschaften, Bevölkerungsgruppen), die mich zum Wahnsinn treiben. Und da ist die dröhnende Stille, die uns entgegenschlägt, wenn wir an Adjektive denken, die verschiedene Schattierungen politischer Haltungen in den sogenannten two communities bezeichnen sollen.
Eines der größten Sprachprobleme im Dialog der Menschen Nordirlands ist die Rhetorik von den zwei Gemeinschaften, Kulturen und Traditionen. Auf der einen Seite werden sie protestantisch, unionistisch, loyalistisch oder britisch, auf der anderen Seite katholisch, nationalistisch, republikanisch oder irisch genannt. Daß Katholiken mit Nationalisten und Protestanten mit Unionisten gleichgesetzt werden, habe, so wird behauptet, seinen Grund in der Notwendigkeit stenografisch kurzer Beschreibungen.
Wir sollten uns also auch diesen Ausdruck einmal genauer ansehen: Was ist Stenografie? Stenografie ist ein Mittel, um gesprochene Sprache schnell und präzise aufzuzeichnen, so daß sie später vollständig und genau verschriftlicht werden kann. Politische Stenografie jedoch verwischt und macht aus komplexen und vielseitigen Identitäten zwei Lager, mit denen dann Ideologen, Paramilitärs, Politiker, Kommentatoren und Regierungen einfacher hantieren können. Die Unterschiede aber, z.B. zwischen Katholiken und Nationalisten, sind Legion.
„Katholiken aller politischen Schattierungen meint man unter dem wenig hilfreichen Banner des Nationalismus zusammenwerfen zu können. Diese gefährliche Gleichung von Nationalismus und Katholizismus hat einiges dazu beigetragen, daß eine normale Politik sich hier nicht hat entwickeln können. Es hat außerdem die Arbeit der Unionisten einfacher gemacht. Schlimmer noch: es hat das soziale Klima unter Katholiken vergiftet, und zwar so gründlich, daß es für Katholiken inzwischen äußerst schwierig ist, öffentlich eine Meinung zu äußern, die sich nicht auf eine schmale nationalistische Linie festlegen läßt... Einer der größten Beiträge, die Katholiken zur Liberalisierung der politischen Atmosphäre in Nordirland machen könnten, wäre die Aufkündigung dieser Gleichung von nationalistisch und katholisch.“ Dies wurde vor fast dreißig Jahren von keinem Unionisten oder Protestanten geschrieben, sondern von einem, der sowohl Katholik als auch Nationalist ist, wenn man so will sogar der Doyen der nationalistischen Politiker in Nordirland, nämlich John Hume (heute Vorsitzender der nordirischen Partei SDLP).
Ähnlich könnte man in Hinsicht auf die Gleichung Protestanten = Unionisten argumentieren. Das Gerede von den zwei Gemeinschaften, Kulturen oder Traditionen ist zumindest irreführend. Und dennoch wurde der Anglo-Irische Vertrag (von 1985) und auch die kürzlich wieder aufgenommenen politischen Gespräche um diese falschen analytischen Begriffe herum zentriert. Der Vertrag spricht: von den wichtigsten Traditionen, Unionisten und Nationalisten, den zwei Gemeinschaften, beiden Gemeinschaften, beiden Traditionen, von der Gemeinschaft, der Minderheitsgemeinschaft und der nationalistischen Gemeinschaft... Das heißt also, daß wir Gemeinschaften und Traditionen haben, allerdings nur zwei. Eine Gemeinschaft wird dabei fälschlicherweise für das Gleiche gehalten wie eine Tradition und ausschließlich durch ihr Verhältnis zu einer nationalen Identität definiert. Ich will damit nicht sagen, daß so schöne Wörter wie Gemeinschaft, Kultur und Tradition in der politischen Diskussion nicht mehr vorkommen dürfen. Und ich würde einen so wunderbar ambivalenten Ausdruck wie Gemeinschaft auch nicht ersetzt haben wollen durch einen eindeutigeren und damit einseitigeren. Aber Worte sollten, wie auch die Menschen und Werte, die sie repräsentieren, mit Respekt und Sorgfalt behandelt werden...
Meine Kritik wird vielleicht als Haarspalterei eines Außenstehenden zurückgewiesen, der nicht begreift, wie verschiedene Identitäten sich überlappen. Was hieße es denn, wird man fragen, wenn es tatsächlich einen oder zwei nicht- nationalistische Katholiken gäbe? Und außerdem (ich bezweifle das nicht) gebe es diesen tiefen Graben zwischen den „zwei Gemeinschaften“ schließlich wirklich, egal, wieviele Meinungen man innerhalb dieser zwei Gruppen fände. Warum nicht genau sein? Wieviele nicht-nationalistische Katholiken muß man vorzeigen können, um die Inhaber der Macht dazu zu bringen, angemessene Begriffe zu benutzen? Wenn es ihnen gerade paßt, ignorieren sie natürlich alle Umfragen und behaupten, die Leute würden eben nicht gerne zugeben, daß sie Loyalisten oder Republikaner, Unionisten oder Nationalisten sind. Doch in allen Umfragen dominiert eben eine rhetorische Tendenz, die nahelegt, daß einer Nationalist sein muß, wenn er katholisch ist. So werden Ergebnisse schon vor dem Zählen durch unser Vokabular bestimmt.
Die ständige Betonung, der ständige Sprachgebrauch der two communities verstärkt eine immer größere Polarisierung und Lagermentalität selbst bei denen, die sich eigentlich nicht so simpel zuordnen (lassen) wollen. Natürlich gibt es viele, die eine solche Lagermentalität begrüßen, und ich bin durchaus kein Fürsprecher einer Assimilation, die keinen erträgt, der nur mit seinesgleichen umgehen will. Ich begreife auch, daß man einen Gegner braucht, weil es sonst keinen Spaß macht, für die eigene Mannschaft zu sein. Ich möchte aber zu bedenken geben, daß die permanente Unsicherheit und Gewalt in unserem Land unser aller Wahrnehmung von Gemeinschaft längst schon verändert hat, so daß alle Teile der Gemeinschaft durch das Erleben so vieler Tragödien längst schon zu einer einzigen traurigen Familie vereint sind.
Ich spreche nicht nur von den vielleicht immer noch nur wenigen Menschen, die „sich ändern“ wollen. Ich behaupte im Gegenteil, daß es womöglich sehr viele gibt, die vor allem das Vokabular ändern müssen, um ihre bereits veränderte Identität oder ihre komplexen Identitäten ausdrücken zu können, die mit dem Gerede von den zwei Mannschaften nämlich nicht getroffen sind. Selbst wenn die Zahl derer, für die das gilt, klein wäre (was ich nicht glaube): Was ist so schrecklich daran, zu akzeptieren, daß es in Nordirland sehr
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viel mehr als zwei Traditionen, Kulturen und Gemeinschaften gibt? Die zweithäufigst gesprochene Sprache in Nordirland ist Chinesisch.
Solange wir von zwei Mannschaften sprechen, zählt zum Beispiel auch die chinesische Gemeinschaft nicht. Und die muslimische und so weiter. Wir haben alle mehr als nur eine Identität, auch die Geschlechtszugehörigkeit sollte man nicht unterschätzen. Wir könnten alle als Angehörige verschiedener sich überschneidender communities beschrieben werden, der Männer, Protestanten, Arbeitslosen und so weiter.
Vor allem scheint mir die strikte Zuordnung zu einer der „zwei Gemeinschaften“ die Erkenntnis zu verhindern, daß es verschiedene Formen gibt, britisch oder irisch zu sein. Beispielsweise würden viele Unionisten durchaus akzeptieren, daß sie irgendwie auch Iren sind, und viele Katholiken können auch Vorteile darin sehen, in einem als britisch definierten Staat zu leben. Diese Varianten bleiben jedoch unsichtbar, solange der linguistische Anfang aller Untersuchungen selbst immer wieder die Mentalität der zwei Gemeinschaften ist und damit die alte Formel „Protestanten = Unionisten = Briten/Katholiken = Nationalisten = Iren“ festschreibt.
Ich bezweifle alle Analysen, die zu dem Ergebnis kommen, das Problem in Nordirland sei nur eines der Beziehung zwischen den „zwei Gemeinschaften“. Es ist die Sprache, die uns solches Denken erst aufdrängt und uns zu der Folgerung zwingt, beide Gemeinschaften bräuchten eine schützende Hand von außen.
Zweifel bleiben auch über die territorialen Grenzen der jeweiligen Gemeinschaften. Unterscheidet sich die „nationalistische Gemeinschaft“ in Nordirland irgendwie von der „nationalistischen Gemeinschaft“ im restlichen Irland? Unterscheiden sich die Unionisten von ihren Brüdern und Schwestern in Großbritannien? Der Begriff der two communities enthält auch eine territoriale Vagheit, und auch mit dieser Verunsicherung sollte möglichst schnell Schluß gemacht werden.
Eine auffallende andere Definition von „zwei Gemeinschaften“ nimmt die soziale Bedürftigkeit als Kriterium; eine Definition, die löblicherweise inzwischen selbst von Regierungsbeamten akzeptiert worden ist und sich in neuen Initiativen offenbar durchsetzt. Es gibt in unserem Land nämlich Menschen, die sind arm oder reich, haben Jobs oder haben keine. Für die Definition von „zwei Gemeinschaften“ könnte man also statt von den alten antagonistischen Begriffspaaren katholisch/protestantisch oder nationalistisch/unionistisch ebenso gut von Mittel- oder Unterschicht, Privilegierten und Benachteiligten sprechen. Mit Interesse verfolge ich Bemühungen, den Ausdruck „Loyalisten“ als Bezeichnung für die Leute des militanten Flügels der Unionisten aufzugeben und statt dessen den Teil der protestantischen Arbeiterklasse damit zu bezeichnen, der benachteiligt und vergessen in öden Wohnblocks lebt, in denen die Arbeitslosigkeit wie eine Seuche grassiert. Solche gesellschaftlichen Gruppen ähneln einander und unterscheiden sich jeweils von ländlichen Armutsgegenden, von katholischer Stadtarmut und von protestantischen Mittelschichtlern. Eine Sprache, die lediglich die Nähe zu Letzteren anerkennt, ist, gelinde gesagt, beschränkt.
Solange wir die Sprache der öffentlichen Auseinandersetzung nicht in Frage stellen und nur das derzeitige, beschränkte und beschränkende Vokabular zu Tode reiten, werden wir nicht wissen, welche Folgen eine der Realität angemessenere Sprache in Nordirland haben könnte.
Mit dem bisher Gesagten hängt auch der Mangel an Adjektiven in unserem politischen Vokabular eng zusammen. Es geht dabei um die Weigerung, eine Heterogenität innerhalb bestimmter Bevölkerungsgruppen anzuerkennen, indem man den verschiedenen Untergruppen eine differenzierte Benennung vorenthält. Diese Absurdität hat kürzlich mit einer Morddrohung an „alle Nationalisten“ einen logischen Schluß erreicht. Nun gibt es viele Arten von Nationalisten in Nordirland.
Wollte man hier Untergruppen voneinander abgrenzen, könnte man dies nach dem Kriterium „Unterstützung nur für ,konstitutionelle‘ Maßnahmen“ oder „Akzeptanz von ,Männern der Gewalt‘“ tun. Meine Anführungsstriche sollen die Skepsis ausdrücken, mit der ich solche inflationär gebrauchten Ausdrücke wie „konstitutionell“ und „Männer der Gewalt“ benutze. Immerhin aber ist dies die gebräuchlichste Art, Nationalisten verschiedenster Prägung zu unterscheiden. Eine weitere Differenzierung könnte den zeitlichen Rahmen, in dem man denkt (langfristig, kurzfristig), zum Kriterium machen oder das erhoffte Endresultat (Föderation, Vereinigung) oder Haltungen gegenüber anderen typischen Charakteristika irischer Staatlichkeit (klerikal, anti-klerikal).
Protestanten haben, wie Muslims in England, keine gute Presse. Das merkt man vor allem an dem Adjektiv, das ihnen hauptsächlich angehängt wird: fundamentalistisch. In den Medien ist damit eindeutig etwas Negatives gemeint, selbst wenn die so Bezeichneten es häufig selbst nicht empfinden. Fundamentalistische Katholiken oder fundamentalistische Säkularisten werden allerdings selten so genannt.
Es wäre für unser Verständnis von Identitäten und Haltungen hilfreich, wenn einige Adjektive und Substantive mehr im Umlauf wären. Schließlich gibt es in jeder politischen Organisation ein gewisses Spektrum an Meinungen von rechts nach links. Immerhin ist allgemein bekannt, daß der Unterschied zwischen liberalen und radikalen Unionisten – wie die meisten Loyalisten genannt werden – ebenso groß ist wie der zwischen radikalen Nationalisten – gewöhnlich Republikaner genannt – und anderen Katholiken. Immerhin könnte man also Worte wie radikal, progressiv, liberal, moderat, konservativ, traditionell, reaktionär etc. benutzen, um das ganze religiöse und politische Spektrum einer bestimmten Gemeinschaft, Kultur oder Tradition zu bezeichnen; und wenn es um ökonomische Dinge geht, könnte man Begriffe wie rechts, links, staatskapitalistisch, markwirtschaftlich und monetaristisch anwenden.
Gelegentlich hört man vom integrationistischen und devolutionistischen Flügel auf unionistischer Seite. Mir scheint, daß diese Ausdrücke von vornherein auf einem Mißverständnis beruhen und deshalb auch wenig taugen, um Politiker oder Parteien zu charakterisieren. Nur ein Substantiv (hier: Unionist) und ein Adjektiv (integrationistisch) für einen Politiker zu haben, verstärkt meiner Ansicht nach nur die Auffassung, daß es bei allem immer nur um eine einzige Frage geht, nämlich die Art der Regierung und Verfassung dieses Landes in bezug auf Großbritannien. Nahegelegt wird damit auch, daß es nur einen einzigen Indikator für politischen Fortschritt gibt: Nähert man sich der Position Englands und Schottlands an oder entfernt man sich davon? Ein besserer Maßstab wäre, ob politische Entwicklungen gut oder schlecht sind. Sind sie gut, bringen sie zum Beispiel mehr Bürgerrechte, sollen sie uns willkommen sein; sind sie schlecht, wie zum Beispiel die Polltax [kommunale Besteuerung; Anm. d. Red.], versucht man sie zu vermeiden und den Rest Großbritanniens dazu zu bringen, dasselbe zu tun.
Wenn wir uns politische Fragen vornehmen wie die Rechte der Angeklagten oder der Beschäftigten, Gesundheitsversorgung, Gesamtschulen und nicht immer nur Westminster und Stormont, also das Verhältnis Großbritannien – Nordirland, dann wird deutlich, daß ein paar mehr Adjektive im politischen Diskurs nicht schaden könnten. Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme Nordirlands könnten so mit ähnlicher sprachlicher Gründlichkeit beschrieben und analysiert werden, wie sie anderswo selbstverständlich ist.
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