Eine Stadt sieht schwarz: New York City kämpft ums Überleben. 500.000 Drogensüchtige vegetieren vor sich hin, fast die Hälfte aller Kids leben in Armut, seit 1989 fehlen 300.000 Jobs in Amerikas größter Stadt. Und ein deutlicher Riß zieht sich durch die bunt gemischte Bevölkerung – unüberbrückbar? Zwei Männer, die verschiedener nicht sein können, wollen am Dienstag als Bürgermeister New Yorks Seele retten: der demokratische Schwarze David Dinkins, Noch-Chef über acht Millionen Einwohner, und der epublikanische Weiße Rudolph Giuliani, ein Erzreaktionär. Aus New York Andrea Böhm

Der Mann war verwirrt. Eine Million Italiener, 500.000 Deutsche, 300.000 Iren, 300.000 Russen, 250.000 Schwarze, 150.000 Polen, Spanier, Chinesen und Finnen zählte der Besucher aus Moskau. „Eine rätselvolle Frage ist zu stellen“, schrieb Wladimir Majakowski 1925 in seinem Reisebericht über New York. „Wer sind eigentlich die Amerikaner? Wie groß ist ihr Prozentsatz?“

Die Frage läßt sich bis heute nicht beantworten. Dafür müßte Majakowski, würde es ihn heutzutage nach New York verschlagen, die Liste der ethnischen Gruppen um mindestens ein Dutzend verlängern. Und er würde Zeuge eines für Außenstehende recht seltsamen Schauspiels: Zwei Männer – von dem Drang besessen, diesen Moloch namens New York regieren zu wollen – addieren und kalkulieren mit wachsender Nervosität, ob ihr Flickenteppich mit Wählerstimmen aus dem Lager der Schwarzen, Puertoricaner, Dominikaner, Koreaner, Juden, Haitianer, Anglo- und Italo-Amerikaner ausreicht, um am Dienstag Bürgermeister zu werden.

Die beiden Kandidaten, Afro- Amerikaner und Italo-Amerikaner, kennen sich bestens. David Dinkins und und Rudolph Giuliani standen einander 1989 zum ersten Mal im Wahlkampf gegenüber. Damals zog Demokrat Dinkins als erster schwarzer Bürgermeister in der Stadtgeschichte New Yorks ins Rathaus.

New York mit seinen knapp acht Millionen Einwohnern war damit die letzte amerikanische Großstadt, die einen schwarzen Politiker wählte, der durch die Bürgerrechtsbewegung geprägt worden ist und mit Hilfe der „Regenbogenkoalitionen“ gewann. Gemeint sind jene Bündnisse aus ethnischen Minderheiten, Frauenorganisationen, Gewerkschaften, Umweltgruppen, progressiven Kirchen und ein paar versprengten liberalen Weißen, die in den 70er und 80er Jahren in den USA eine Politik repräsentierten, die das Etikett „links“ verdiente.

Im Falle New Yorks war es ein Wahlbündnis aus Schwarzen, Hispanics und liberalen Weißen, darunter vor allem jüdische Wähler. Sie alle erhofften sich von Dinkins einen Bürgermeister, der keine Gruppe bevorzugen würde, der soziale Linderung versprach. Und einen healer, der angesichts der vorhandenen ethnischen Spannungen ausgleichen und vermitteln würde.

Heute sind im Gegensatz zu David Dinkins die meisten New Yorker der Meinung, daß es ihnen und der Stadt schlechter geht, als vor vier Jahren. Dieser Eindruck ist schwer von der Hand zu weisen. Die Stadt hat seit 1989 über 300.000 Arbeitsplätze verloren, die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist um 200.000 gestiegen. Die New Yorker Polizei ist in einen Korruptionsskandal ungeahnten Ausmaßes verwickelt. Im Herbst konnten die staatlichen Schulen wegen Asbestverschmutzung nicht geöffnet werden, und die Straße birgt ein Risiko, das für Kinder und Jugendliche tödlich sein kann. Beispiele liefern Polizeibericht und Lokalpresse täglich. In einem von Schwarzen bewohnten Sozialbau in Brooklyn wurde unlängst ein 13jähriger verhaftet, der im Streit das Feuer auf einen Spielkameraden eröffnet und dabei ein 17jähriges Mädchen getötet hatte, das ihren zweijährigen Sohn aus der Schußlinie ziehen wollte.

David Dinkins kann für sich in Anspruch nehmen, daß die Mordrate in diesem Jahr nicht mehr den Rekord des Vorjahres von 1.995 Opfern erreichen wird. Er kann darauf pochen, daß es in New York keine Gewaltorgie à la Los Angeles gegeben hat und er nicht, wie seine Bürgermeisterkollegin in Washington, das Militär zur Verbrechensbekämpfung anfordern muß. Doch viele New Yorker sehen in David Dinkins heute bestenfalls das kleinere, schlimmstenfalls das größere Übel im Gegensatz zu Rudolph Giuliani.

Nun, vier Jahre später, befinden sich Dinkins und Giuliani laut Meinungsumfragen in einem Kopf-an- Kopf-Rennen. Sollte Giuliani gewinnen, würden auch die New Yorker in eine Ära eintreten, die der amerikanische Kolumnist Jim Sleeper als das „Ende des Regenbogens“ bezeichnet. Ob in Los Angeles, Chicago, Philadelphia oder Houston – es ist eine neue Generation von Bürgermeistern mit einem deutlich konservativen Programm angetreten: Budgetkürzungen, mehr Polizisten auf den Straßen, härtere Strafen in den Gerichtssälen, Privatisierung des Schulsystems. Die neuen Amtsträger sind in der Regel weiße, wohlhabende Männer, die entweder wie Richard Riordan in Los Angeles oder Robert Lanier in Houston als erfolgreiche Geschäftsleute in die Politik einstiegen, oder wie Edward Rendell in Philadelphia und Rudolph Giuliani als ehemalige Staatsanwälte einen Ruf als unnachgiebige Kämpfer gegen das Verbrechen aufweisen können. Hinzu kommt in kleineren Städten wie Cleveland und Denver eine neue Generation schwarzer Amtsträger, die versuchen, ihre brachliegenden Innenstädte im Schulterschluß mit der weißen Geschäftswelt aus den Suburbs wieder aufzubauen. Auch hat höchste Priorität: Mehr Polizisten auf die Straße und härtere Bandagen in der Strafjustiz.

Vor allem sind es demographische Entwicklungen, die die Wahlarithmetik der alten „Rainbow- Coalitions“ obsolet gemacht haben. 40 Prozent aller Einwohner in Los Angeles, 30 Prozent aller Bürger in New York sind im Ausland geboren – die meisten kommen aus der Karibik, Mittel-und Lateinamerika.

Los Angeles wird um die Jahrhundertwende eine hispanische Mehrheit haben. New York könnte bald folgen. Obwohl in sich alles andere als homogen, genießen unter den Hispanics zunehmend Politiker wie Herman Badillo große Popularität. Der gebürtige Puertoricaner, als Waisenkind in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, verkörpert die Erneuerung des amerikanischen Traums, wenigstens zum Rechtsanwalt aufzusteigen – aus eigener Kraft, ohne staatliche Unterstützung, Quotenregelung oder sonstige politische Errungenschaften, die den Konservativen in den USA so zuwider sind. Badillo macht in diesem Jahr Wahlkampf für Rudolph Giuliani.

Wie auch immer die Wahl am Dienstag ausgeht: Absehbar ist, daß die Riordans, Laniers, aber auch ein Dinkins oder ein Giuliani Kandidaten des Übergangs in eine neue Epoche sind, in der immer mehr hispanische Politiker die Geschicke der Städte und der Rathäuser eingreifen werden.

Wie die Regenbogenfarben dieser Epoche aussehen werden, weiß niemand. Fest steht, daß der „Hinterhof“ der USA immer mehr Zimmer im Vorderhaus belegt. Buenos dias, America!

Das große Foto zeigt maximale Euphorie in Dinkins Harlemer Wahlkampfbüro Fotos: Reinhard Krumm und

Brian Palmer/Impact Visuals (l.)