: Leute, lest selber!
■ betr.: „Sozialarbeit oder Gesin nungsbildung?“ (Eine feministi sche Einrichtung evaluiert sich selbst) von Katharina Rutschky, taz vom 4.10.93
Im Artikel ist aus Sicht der wissenschaftlichen Begleitung der Modellphase von „Wildwasser Berlin“ – Beratungsstelle und Zufluchtswohnung für sexuell mißbrauchte Mädchen – richtigzustellen:
– Drei Wissenschaftlerinnen mit unterschiedlicher fachlicher Qualifikation haben das Modellprojekt begleitet und evaluiert.
– Aufgabe der wissenschaftlichen Begleitung war es u.a., die Konzeption und die Entwicklung der Arbeit der ersten Jahre von „Wildwasser Berlin“ zu dokumentieren und einzuschätzen. Ziel und Aufgabe der Begleituntersuchung eines Modellprojektes ist damit u.a. immer auch, die Akzeptanz und Inanspruchnahme einer Einrichtung mit Zahlen zu dokumentieren. Darüber hinaus war es unser Anliegen, das Wissen über die Lebenssituation von Mädchen und Müttern, die bei Wildwasser beraten werden, zu erweitern.
Eine Repräsentativerhebung war durch die vom Bundesministerium vorgegebene Aufgabenstellung ausgeschlossen. Unterschiedliche quantitative (u.a. Erhebungsbogen für Mädchen; Fragebogen für Mütter sexuell mißbrauchter Mädchen, für Professionelle) und qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung (u.a. Interviews mit Mädchen, Müttern und Professionellen, Gruppendiskussionen, Teamdiskussionen, teilnehmende Beobachtung) wurden angewandt.
Die Auswertung brachte weitreichende Ergebnisse: z.T. bestätigten sie die Ergebnisse anderer Untersuchungen zum Problem des sexuellen Mißbrauchs bzw. zum Arbeitsbereich Beratung, z.T. vermitteln sie neue Erkenntnisse. Die Untersuchung schlüsselt z.B. Art und Folgen der Gewalterfahrung sowie die Bedürfnisse von Mädchen an Unterstützung altersspezifisch auf und zeigt praxisrelevante Unterschiede in der Lebenssituation von Mädchen auf, die Beratung oder aber Unterbringung in einer Zuflucht benötigen. Sie gibt sowohl die Sicht der Mädchen auf das Erleben des sexuellen Mißbrauchs als auch die Sicht der Mütter auf ihre spezifische Problematik wieder. Zur Situation derjenigen, die sich beruflich der Problematik des sexuellen Mißbrauchs stellen müssen, werden über bekannte Praxishilfen hinaus erstmalig Informationen aus erster Hand gegeben.
Die vorgelegten Ergebnisse zeigen den Bedarf und schaffen die fachliche Grundlage für eine politische Realisierung weiterer parteilicher, geschlechtsspezifischer Schutz- und Unterstützungseinrichtungen für sexuell mißbrauchte Mädchen sowie für Modelle der Vernetzung und Kooperation mit anderen bestehenden Einrichtungen und erforderliche Verbesserung im Bereich der sozialen Dienste und der Justiz.
Quantitative Untersuchungsergebnisse sichern Vorannahmen bzw. bisheriges Wissen empirisch ab. Der Bericht gibt bei Nennung von Prozentzahlen stets an, auf welche Gesamtheit sie sich beziehen.
– Das Team der Beratungsstelle und das Team der Zufluchtswohnung arbeiten von Beginn an unter Supervision. In den Einrichtungen arbeiten zwei klinisch ausgebildete Psychologinnen, es besteht eine Kooperation mit Ärztinnen und Therapeutinnen.
– „Wildwasser“ ist keine konfessionelle Einrichtung. Die Religionszugehörigkeit von Mitarbeiterinnen wie von Ratsuchenden ist unerheblich.
– Gewaltverhältnisse, in denen Frauen und Mädchen leben, sind keine Konstruktion der Mitarbeiterinnen von „Wildwasser“ oder der Wissenschaftlerinnen der Begleitforschung, sondern gesellschaftliche Realität.
– Eine Differenzierung zwischen aufgedeckten und vermuteten Fällen ist für eine qualifizierte Beratungsstelle notwendig. Im Bericht ist detailliert ausgeführt, was unter Aufdeckung zu verstehen ist.
Die Untersuchung benennt für den Arbeitsbereich Beratung 167 Fälle, die bei Beratungsbeginn aufgedeckt, und 94 Fälle, in denen sexueller Mißbrauch bei Beratungsbeginn vermutet wurden. Von den letzteren konnten zirka ein Fünftel im Beratungsverlauf aufgedeckt werden.
In Fällen, die nach Beendigung der Beratung weiterhin als vermutet bezeichnet wurden, konnte ein Verdacht auf sexuellen Mißbrauch weder bestätigt noch für gegenstandslos erklärt werden. Dies traf auch für drei von sieben Mädchen der Zufluchtswohnung zu, die nach Hause zurückkehrten bzw. auf Beschluß des Familiengerichts nach Hause zurückkehren mußten.
– Zur Aufdeckungsarbeit mit kleinen Mädchen wird im Bericht ausführlich Stellung genommen. In diesem Bereich wird bei „Wildwasser“ mit großer Sorgfalt gearbeitet, die Mitarbeiterinnen verfügen über weitreichende Kompetenzen, insbesondere auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie. „Wildwasser“ kommt das Verdienst zu, ein differenziertes und fundiertes Arbeitskonzept für die Beratungs- und Gruppenarbeit mit kleinen Mädchen entwickelt zu haben. Dafür wurden – und werden auch weiterhin nach Abschluß der Modellphase – Erfahrungen und fachliche Erkenntnisse aus dem In- und Ausland in das Beratungskonzept integriert. Mädchen wurden (und werden) nicht als feministische Widerstandskämpferinnen betrachtet, sondern als Personen, die sich ihren Möglichkeiten entsprechend zu wehren versuchten.
– Der Bericht weist aus, daß Mädchen überwiegend auf Anregung von Erzieherinnen, Ausbilderinnen, Bekannten, Freundinnen, die ihrerseits auf unterschiedlichen Wegen von dem Beratungsangebot erfahren hatten, die Beratungsstelle aufsuchten. Jugendliche kamen zu Anfang selten allein, sondern entschlossen sich in Begleitung einer Vertrauensperson die Beratungsstelle aufzusuchen. Kleine Mädchen waren und sind auf die Unterstützung erwachsener Vertrauenspersonen angewiesen.
– Der Bericht gibt in einer Vielzahl von Auszügen aus den qualitativen Interviews die subjektive Sicht der Mädchen unzensiert wieder, u.a. über ihre Lebenssituation zur Zeit und nach Beendigung des sexuellen Mißbrauchs. Aussagen der Mädchen über ihre Realität und Lebenserfahrung sind zugleich Aussagen über gesellschaftliche Realität.
Bei „Wildwasser“ wird die subjektive Sicht der Mädchen ernst genommen. Mädchen wird geglaubt, wenn sie von sexuellem Mißbrauch berichten. Indoktrination ist mit qualifizierter beraterischer bzw. wissenschaftlicher Arbeit unvereinbar. Inhalte und Ziele der Beratungs- und Betreuungsarbeit sind im Bericht ausführlich dargestellt.
– Der Bericht macht deutlich, wo die Möglichkeiten und Grenzen von Beratungs- und Zufluchtsarbeit liegen, zeigt die Notwendigkeit von Kooperation mit anderen Einrichtungen auf, um den vielfältigen Bedürfnissen der Mädchen an Unterstützung gerecht zu werden. „Wildwasser“ arbeitet daran, ein Netz von Kooperation in Berlin aufzubauen. Der Bericht leitet u.a. hierzu aus den Untersuchungsergebnissen weitreichende Empfehlungen ab.
Wir schließen uns der Schlußempfehlung von Rutschky an: Leute, lest selber! Ihre Parallele zum Nationalsozialismus halten wir für unangebracht. Es geht nicht darum, daß „niemand sagen kann, er habe es nicht gewußt“, sondern darum, daß Wissen über das Problem des sexuellen Mißbrauchs und adäquate Beratungs- und Unterstützungsangebote erforderlich sind. [...] Roswitha Günther,
Barbara Kavemann
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