: „Offizielle Version unglaubwürdig“
■ Grüner Bürgerschaftsabgeordneter besuchte kurdische Stadt Lice
Am 22. und 23. Oktober kam es in der 10.000 Einwohner zählenden Kleinstadt Lice in Türkisch-Kurdistan zu einem Angriff des Militärs. Ungefähr ein Viertel der Häuser wurde dabei zum Teil bis auf die Fundamente zerstört, mehrere Bewohner starben, viele der Überlebenden fliehen inzwischen in größere Städte. Soweit die unbestrittenen Fakten.
Über die genaue Zahl der Opfer und vor allem über die Frage, wer für diesen Angriff auf die Zivilbevölkerung verantwortlich ist, gibt es zwei völlig verschiedene Versionen: Während die türkischen Regierungsstellen von einem Gefecht mit eingesickerten Rebellen der kurdischen Arbeiterpartei PKK sprechen und die Zahl der Todesopfer mit 13 angeben, sprechen PKK-nahe Quellen von einem unmotivierten Überfall des türkischen Militärs und gehen von über 200 Toten aus.
Was genau in Lice geschah, konnte auch eine Delegation deutscher Abgeordneter nicht klären, die eine Woche danach den Ort besuchte. „Ich halte die offizielle Version allerdings für wenig glaubwürdig“, resümierte einer der Teilnehmer, der grüne Bürgerschaftsabgeordnete Walter Ruffler, gestern nach der Rückkehr in Bremen seine Eindrücke.
Die Delegation hatte sich — mit ausdrücklicher Genehmigung der türkischen Behörden — einen Tag lang völlig unbehindert in Lice bewegen können und dabei viele Gespräche mit der Bevölkerung geführt. „Das war die Armee, nicht die PKK“, sei ihnen dabei immer wieder versichert worden, berichtete Ruffler gestern. Rund 30 Todesopfer habe der zwei Tage dauernde Beschuß der Stadt gefordert, hätten Gesprächspartner berichtet. Mit einem gut brennbaren, gelblich- weißen Pulver hätten die Soldaten gleichzeitig zahlreiche Häuser in Brand gesteckt. Auch Menschen, die mit diesem Pulver in Berührung gekommen seien, hätten Verbrennungen erlitten.
Für diese Berichte sprächen auch zahlreiche Indizien, meinte Ruffler gestern. So gebe es an den Gebäuden der Polizei-Kommandantur, der Militärwohnblocks und des Landratsamtes in Lice keinerlei Schäden. Ein Wohnviertel sei dagegen offenbar mit Feuerwerfern und Brandbeschleuniger völlig niedergebrannt worden.
Im Einsatz, so Berichte aus der Bevölkerung, seien auch Schützenpanzer aus deutscher Herstellung gewesen. Hinweise auf ein Gefecht zwischen Guerilla und Militär habe man dagegen keine gefunden.
„Ich halte es für wichtig, den türkischen Behörden zu signalisieren, daß es in Europa ein Interesse an den Zuständen in Kurdistan gibt“, begründete Ruffler den Sinn der Delegationsreise. Nur internationale Aufmerksamkeit könne verhindern, „daß Lice jetzt einfach abgehakt wird“. Ruffler forderte Senat und Bürgerschaft auf, ebenfalls eine Menschenrechts-Delegation zu entsenden. Ase
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen