: „Lice war ein Einschüchterungsversuch“
■ Grüne besuchten den zerstörten kurdischen Ort / Offenbar statuierten türkische Militärs dort ein Exempel, weil die Bevölkerung als besonders PKK-freundlich gilt
Eine Delegation grüner PolitikerInnen aus Deutschland besuchte am Wochenende die zerstörte kurdische Stadt Lice im Südosten der Türkei. Sie waren die ersten BeobachterInnen, die in die Stadt gelangten, die tagelang von türkischen Militärs von der Außenwelt abgeriegelt worden war. Die taz sprach mit dem nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Siggi Martsch und dem Bremer Bürgerschaftsabgeordneten Walter Ruffler
taz: Welchen Eindruck hatten Sie von Lice?
Walter Ruffler: Ein großer Teil der Stadt ist abgebrannt. 400 Häuser sind völlig zerstört oder beschädigt. Alle Geschäfte im Zentrum sind zerstört, die Scheiben zerschossen. Einige Geschäfte waren völlig ausgebrannt. Wir haben etliche Lastwagen gesehen, die mit den Habseligkeiten der Bewohner vollgeladen wurden. Wir hatten den Eindruck, daß viele Bewohner Lice verlassen.
Siggi Martsch: Es gibt keine Versorgung in der Stadt. Die Infrastruktur ist zusammengebrochen.
Offiziell heißt es, daß Brot und andere Lebensmittel nach Lice transportiert und verteilt werden.
Ruffler: In den Läden gibt es fast nichts zu kaufen. Nur vor dem Polizeigebäude stand eine Menschenmenge, die darauf wartete, daß Brot von den Behörden verteilt wurde. Der Landrat und der Polizeikommissar haben uns gesagt, daß sie die Verteilung organisieren. Wir haben aber keine größeren Mengen Verteilgut gesehen.
Zur Rekonstruktion der Ereignisse: Von Regierungsseite heißt es, daß die PKK („Arbeiterpartei Kurdistans“, d.Red.) die Stadt überfallen habe und daß die Sicherheitskräfte das Feuer erwidert hätten. Der türkische General Bahtiyar Aydin sei von PKK- Guerilleros getötet worden.
Martsch: Wir haben sowohl mit dem Ausnahmerechtsgouverneur als auch mit dem Landrat von Lice gesprochen. Auf Nachfrage hat der Landrat erklärt, daß ca. 150 Angehörige der Guerilla nach Lice eingesickert seien und die Zerstörungen in der Stadt verursacht hätten. Er hat nicht von Gefechten gesprochen. Er hat gesagt, die Armeekräfte außerhalb der Stadt hätten nicht in die Stadt gehen können, weil dort auf sie geschossen wurde. Bei Einbruch der Dunkelheit seien die Guerilleros unbemerkt entkommen. Doch alles deutet darauf hin, daß es keine Gefechte gegeben hat. Es ist sogar fraglich, ob überhaupt Angehörige der Guerilla in der Stadt waren. Es gibt keine Spuren, die auf einen Kampf hindeuten. Außer dem Rathaus sind keine Amtsgebäude zu Schaden gekommen, weder das Landratsamt noch das Polizeigebäude. Alle Scheiben des Polizeigebäudes sind intakt. Es gibt zwar einige Einschußlöcher, die könnten aber wesentlich älter sein. Auch die Unterkünfte der Angehörigen der Sicherheitskräfte sind vollkommen unbeschädigt. Die Guerilla hätte die offiziellen Gebäude angegriffen und nicht die Unterkünfte der armen Leute. Im Bereich der Moschee wurde mit starkem Geschütz – möglicherweise mit einem Panzer – geschossen. Wir sahen ein ca. 60 cm starkes Loch im Beton. Ich glaube kaum, daß die Guerilla über solche Waffen verfügt.
Ruffler: Etliche Bewohner haben uns versichert, daß es kein Gefecht gab. Sie schilderten die Brände folgendermaßen: Soldaten seien in die Gebäude hineingegangen und hätten sie aufgefordert, die Gebäude zu verlassen. Dann sei ein gelbweißes Pulver verstreut und angesteckt worden. Wenn man die Art der Schäden, die inkongruente Darstellung von offizieller Seite und die eindeutigen Aussagen von seiten der Bevölkerung zusammennimmt, gelangt man zu dem Eindruck, daß die Einwohner die Wahrheit berichten.
Können Sie etwas über die Zahl der Toten berichten?
Martsch: Von offizieller Seite wird gesagt, es gibt 13 Tote, wovon 4 bis 5 als „Guerilleros“ bezeichnet werden. Außerdem gäbe es 34 Verletzte und etwa 100 Festnahmen. Die Bevölkerung sagt, es habe rund 25 Tote und rund 150 Verschwundene gegeben. Es wurde berichtet, daß mehrere Tote auf dem Marktplatz schwere Folterverstümmelungen aufgewiesen haben und daß ihre Hände mit einer Nylonschnur gefesselt waren. Die Verletzten sind teilweise ins Krankenhaus nach Diyarbakir gebracht worden. Einige sind erblindet. Das könnte auf chemische Einwirkungen zurückzuführen sein. Doch Indizien für eine Giftgasattacke gibt es nicht.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Niederbrennen der Häuser und der Erschießung des Generals Bahtiyar Aydin in Lice?
Martsch: Es wurde berichtet, daß die Auseinandersetzungen am Donnerstag morgen, den 22. Oktober gegen 9.00 Uhr begannen, nachdem vorher ein Minibus mit Sicherheitskräften den Ort verlassen hatte und offensichtlich auf dem Weg beschossen wurde. 4.000 bis 5.000 Soldaten seien an den Auseinandersetzungen beteiligt gewesen, die den ganzen Tag und die Nacht gedauert haben. Nach offiziellen Angaben ist der General erst am Donnerstag um 12 Uhr auf der Kommandantur getötet worden. Die Brandstiftung in Lice kann also nicht als Racheakt für die Tötung des Generals rekonstruiert werden.
Was kann die Motivation für die Sicherheitskräfte sein?
Martsch: Es gibt zwei Aspekte. Einerseits war es ein Einschüchterungsversuch. Man wollte an einer Bevölkerung, der man nachsagt, besonders PKK-freundlich zu sein, ein Exempel statuieren. Auf der anderen Seite stimmt es überein mit der Politik in Ankara, die von einer militärischen Lösung spricht. Dies sind die Vorboten einer weiteren Eskalation. Interview: Ömer Erzeren/Istanbul
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