: Serie: Die neuen Quartiere (neunte Folge): Mit dem Abzug der ausländischen Militärs übernimmt der Bund Flächenressourcen in gigantischer Größe / Berlin hat eigene Vorstellungen für die bisherigen „Geisterstädte“ Von Rolf Lautenschläger
Militärische Splitter für den Städtebau
„Die Schlacht um Berlin“, erinnert sich der Rentner Günther Schemel, „begann pünktlich um fünf Uhr morgens. Erst hörten wir ein Rasseln, das kam von den Kettenfahrzeugen. Dann ballerten die Soldaten aufeinander los, übten Von-Hauswand-zu-Hauswand- springen.“ Mehrmals im Jahr, betont der Mieter der Lichterfelder „Thermometersiedlung“, trainierten die Amerikaner in der sogenannten Geisterstadt „Parks Range“ zwischen dem Pfeifen der Leuchtraketen den Häuserkampf gegen einen fiktionalen Feind. Die Kampfhandlungen des symbolischen Krieges in und vor surrealistischen Kulissen aus Stein und Beton nahmen erst ab, „wenn der Wedding oder was weiß ich“ befreit war.
Über „Parks Range“, jener 110 Hektar großen US-Forces Training Area in Lichterfelde-Süd, liegt erst seit kurzer Zeit eine Stille, die nur hin und wieder von einem anderen absurden Szenarium durchbrochen wird: Dann rasen Wasserwerfer der Berliner Polizei durch die rußgeschwärzten Ruinenstraßen und jagen unsichtbare Demonstranten mit dem Wasserstrahl oder spritzen blindwütig in die Fensterhöhlen verödeter Hausmauern. Sind die Tanks leer und die Polizisten abgezogen, versinkt das riesige dreieckige Gelände wieder in seinen Ruinenschlaf.
„Parks Range“ gehört wie rund zwanzig weitere Standorte zu den großen, von ausländischen Militärs genutzten Berliner Stadtflächen, die nach dem Abzug der Truppen 1994 in eine zivile Nachnutzung überführt werden sollen. Für die Berliner Stadtentwicklung sind die Flächen bedeutsam, liegen sie doch im Stadtplan zum Teil an erstklassigen Standorten, wie etwa in Zehlendorf, Wedding, Spandau oder Karlshorst. Die Vielschichtigkeit der militärischen Standorte – Wohngebiete, Verwaltungszentren, Schulen und Sportstätten, Geschäfte, Kasernen und Übungsgelände – indessen verpflichtet zu einem differenzierten Umgang: Vorhandene Wohngebiete und Verwaltungseinrichtungen könnten beispielsweise behutsam verdichtet, mit Altlasten verseuchte Areale renaturiert werden.
Zugleich müssen die Potentiale der Stadterweiterung an der Peripherie, die bislang wie eine Terra incognita im Dunkeln lagen, als bis dato ausgestanzte Splitter des Stadtgrundrisses in diesen wieder aufgenommen werden. Nur so „erobert“ die Stadt die ihr enteigneten Flächen zurück und vernäht diese durch zivile Nutzungen mit dem städtischen Geflecht. Die Quartiere könnten sich mit neuen Nutzungen zu Stadtteilen erweitern, dem Bezirk fielen wichtige Flächen zu, die Konversion der Militärstandorte bedeutete für die Stadtgestalt quasi zusätzliche Interieurs.
In einer 1993 erstellten Studie errechnete die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, daß „hinsichtlich der Übernahme bestehender Wohnungen die alliierten Wohnstandorte Hüttenweg, Lindenthaler Allee und Cite Foch am bedeutsamsten“ seien. Für circa 2.800 der vorhandenen Wohnungen „wäre es ein leichtes, sie ohne größere Baumaßnahmen weiterzunutzen“. Die nach 1994 größtenteils in den Besitz den Bundes übergehenden Wohnungen böten sich „unter anderem für die Unterbringung von Bundesbediensteten an“.
Bei den Arealen, die einer städtebaulichen Neuordnung bedürfen – etwa durch Wohnungsneubau, mit Kitas, Schulen, Geschäften, Läden und Grünflächengestaltung –, vereinigen allein zwölf Standorte achtzig Prozent des gesamten Neubaupotentials von rund 16.000 Wohneinheiten auf sich, so die Studie: „Es sind dies die Kasernenstandorte Brooke/Wavell, Smuts, Andrews, Mc Nair Barracks sowie die brachliegenden oder untergenutzten Flächen Gehrensee, Biesdorf-Habichtshorst, Rummelsburger Bucht und Johannisthal, die in größere Entwicklungsbereiche eingebettet sind.“
Es wäre für Berlin verhängnisvoll, solch große Quartiere nur den Interessen und spezifischen Nutzungswünschen des Bundes zu überlassen, entstünden doch einerseits ganze Beamtensiedlungen und -viertel in Lagen, denen es bereits heute an urbaner und sozialer Durchmischung mangelt. Andererseits bedeutete der Verzicht der Stadt auf die Brachflächen der Militärs ein Verlustspiel eigener städtebaulicher Strategie, übereignete man doch dem Bund die stadtplanerische Verantwortung. Im unendlichen Umzugsstreit multiplizierten sich erst einmal die Zahlen der leerstehenden Wohnungen und unbenutzten Brachen. Wie sie bebaut werden, läge in einer ungewissen Zukunft.
In welch risikoreicher Lage sich die Bezirke und das Land Berlin in bezug auf selbstverantwortete Stadtentwicklung der Militärflächen befinden, beklagen beispielsweise die Baustadträte Spandaus und Zehlendorfs, Klaus Jungclaus und Klaus Eichstädt. Die Oberfinanzdirektion in Vertretung des Bundes, so Jungclaus, „verhandelt seit über einem halben Jahr nicht mehr über die britischen Standorte im Bezirk“. Die Konzepte für die Konversion der „Haig Barracks“ mit fünf Hektar Fläche oder der „Alexander Barracks“ mit sechzehn Hektar Fläche blieben in den Schubladen liegen. Eine endgültige Entscheidung über die Nutzung des Flughafengeländes Gatow ist ebenfalls noch nicht abzusehen.
Die „Verbitterung“ über die Ignoranz bezirklicher Interessen räumt auch Eichstädt ein. Doch nicht nur die Absichten des Bundes, ebenso die des Bausenators enttäuschten. So erwägt das Land Berlin, am Hüttenweg die lockere Zeilenbebauung der Nachkriegszeit mit 1.000 bis 1.600 zusätzlichen Wohnungen und Geschäften im Bereich der Truman-Plaza zu verdichten. „Der Bezirk widersetzt sich diesen Überlegungen“, erklärt Eichstädt. „Zum einen wenden wir uns gegen eine solch hohe Verdichtungsabsicht. Sie wäre dem Charakter der Waldsiedlung nicht angemessen. Zum anderen sehen die Pläne des Bezirks für die Truman-Plaza eine Neugestaltung vor.“ Geklärt werden müsse auch, welchen Umfang die Nutzungen der Wohnungen und Infrastruktur-Einrichtungen durch das amerikanische Botschaftspersonal haben werde. Der Bezirk sei „sehr daran interessiert, die Sport- und Kultureinrichtungen am Hüttenweg für seine Bewohner nutzbar zu machen“.
Auch das Gelände der „Geisterstadt“ in Lichterfelde-Süd soll für die Stadt und ihre Bewohner zurückgewonnen und mit dem Instrument der städtbaulichen Entwicklungsmaßnahme in das Eigentum der Kommune überführt werden. Doch bis auf eine „Tragfähigkeitsuntersuchung des Areals“, so Günter Schlusche, AL-Mitglied der BVV-Steglitz, „passierte mit dem Gelände nichts, obwohl es von seiner Lage und der möglichen verkehrlichen Anbindung prädestiniert wäre für ein neues qualitatives Konzept der Vorstadt: ein neuer Stadteil ohne Autoverkehr mit einer neuen Bestimmung des Stadtrandes, der nicht expansiv behandelt wird.“
Der Entwurf der Steglitzer Alternativen versteht sich in erster Linie als „Stadt in der Stadt“ – und nicht als „Siedlung“ – für rund 2.500 Wohnungen mit einem Maximum an Urbanität und einem Minimum an Umweltbelastungen. Die autofreie Vorstadt übereignet ihre öffentlichen Räume dabei in erster Linie den Fußgängern und Radfahrern und nicht mehr den Stellplätzen und Straßen für Automobile. Den Bewohnern der südlichen Vorstadt, die sich selbst verpflichten, auf das Auto zu verzichten, soll es möglich sein, zu Fuß oder mit dem Rad den täglichen Bedarf zu decken. Notwendig ist nach Auffassung von Schlusche die Anbindung des neuen Stadtteils an die „Thermometersiedlung“ und die Wiederinbetriebnahme der S- Bahn-Linie nach Lichterfelde-Süd. „Die Überlegungen für den neuen Stadtteil bedeuten eine Reaktion auf die Defizite in der Freiflächenversorgung und bei den sozialen Infrastruktureinrichtungen der 60er-Jahre-Siedlung, die wie ein Satellit von der Stadt abgehängt erscheint und die Neudefinition des Stadtrandes durch einen praktizierten Wertewandel.“
Kaum mehr als die Idee ist von der Vorstellung der „autofreien Stadt“ bislang erörtert worden, obwohl das Modell den Begriff der Vorstadt in einer radikalen und innovativen Weise steigert. Auf der Suche nach Qualitätskriterien für die neuen Berliner Vorstädte fügt die „autofreie Stadt“ in Lichterfelde-Süd der Stadtentwicklungs- Diskussion nicht nur theoretisch Neuerungen vor Augen. Sie zeigt zugleich, wie retrospektiv der Vorstadt-Begriff bisher debattiert wurde. Aus dem Staub der Geisterstadt tauchen neue Formen auf.
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