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Chiles Boom

Weiterhin ein Land der Gegensätze: Die Einkommen steigen, aber noch immer lebt ein Drittel der Chilenen in Armut  ■ Aus Santiago Luten Leinhos

Das Zimmermädchen Any Miranda wohnt im Armenviertel Playa Ancha. Das schäbige Häuschen auf den Hügeln der Hafenstadt Valparaiso teilt die 25jährige mit der Mutter, dem Bruder und ihren beiden Kindern. Doch Any Miranda ist fast nie zu Hause, sie muß Geld verdienen. Ihre Arbeitszeit: 20 Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Für diese Marathonschichten zahlt das Hotel 350 Mark im Monat. „Das ist wenig, aber solange ich nichts Besseres finde ...“, zuckt sie mit den Achseln. Seit der Trennung von ihrem Mann muß sie die Kinder allein durchbringen.

Nur zwei Bus-Stunden entfernt, in den Geschäftsstraßen der Hauptstadt Santiago, sieht das Bild ganz anders aus. Weiße Kragen, gediegene Kostüme und Funktelefone prägen die Atmosphäre auf der Ahumada, der betriebsamen Fußgängerzone. Hier trifft man die Gewinner des chilenischen Höhenflugs.

Ana Maria Corbalán, Managerin einer großen Bank, gehört dazu. „In meiner Position verdient man etwa eineinhalb Millionen Pesos“, 6.000 Mark, erklärt sie. Sie hat – in Chile immer noch sehr ungewöhnlich – als Frau den Sprung in die Etage der Geschäftsführung geschafft.

Das Zimmermädchen Any und die Bankmanagerin Ana Maria – zwei Extrembeispiele für das neue Chile. Der Wirtschaftsboom in dem 13-Millionen-Einwohner- Land läßt die Einkommen sehr ungleich wachsen. 1992 stiegen die Gehälter von Spitzenverdienern, Geschäftsmännern und Managern etwa real um sieben Prozent, die der Angestellten um 4,7 Prozent. Ungelernte Arbeiter mußten mit 3,1 Prozent mehr zufrieden sein.

Chile bleibt damit ein Land der Gegensätze, allerdings auf immer höherem Niveau. Um 10,4 Prozent wuchs die Wirtschaft des Andenstaates allein im letzten Jahr, schneller als irgendwo sonst in Südamerika. Für dieses Jahr werden fünf bis sechs Prozent Plus erwartet. Die Inflationsrate hat sich bei etwa zwölf Prozent eingependelt.

„Wir haben mehr Kunden und verdienen mehr Geld“, freut sich ein Taxifahrer auf der Alameda, der Prachtstraße Santiagos, das allmählich im Verkehr erstickt. Der Mann zeigt stolz auf seinen gelbschwarzen Peugeot und stellt fest: „Zum ersten Mal seit 20 Jahren habe ich genug Geld übrig, um die Karre aufzumöbeln.“

Schon klagen die Unternehmer über zu hohe Löhne. „Nehmen sie zum Beispiel Zimmerleute. 1.200 Dollar im Monat muß man zahlen, wenn man einen kriegen will“, sagt Rudolfo Amenabar vom Industrieverband Sofofa und zeigt aus dem Fenster.

Direkt vor seinem Büro im elften Stock wächst einer der vielen neuen Glaspaläste in die Höhe, die derzeit in Santiago gebaut werden. Von einem „fürchterlichen Mangel an Facharbeitern“ spricht der Mann vom Industrieverband und berichtet, daß immer häufiger Gastarbeiter aus den Krisenländern Peru und Brasilien nach Chile kommen. Mit 4,5 Prozent Arbeitslosen melden die staatlichen Statistiker derzeit den niedrigsten Stand seit 20 Jahren.

Die Militärdiktatur hatte ihre neoliberalen Schockprogramme auf dem Rücken der kleinen Leute durchgezogen. Bis zu einem Drittel der Chilenen war zeitweise ohne Arbeit. Aber auch diejenigen, die ihren Job behielten, konnten sich wegen der hohen Inflation immer weniger dafür kaufen. Erst in den letzten fünf Jahren der Ära Pinochet begann der wirtschaftliche Aufstieg. 1990 dann hinterließ der General dem neuen Präsidenten Aylwin zehn Prozent Wirtschaftswachstum, sechs Prozent Arbeitslose und fast 30 Prozent Inflation. Die Realeinkommen hatten gerade erst wieder das Niveau von 1980 erreicht.

Die neue demokratische Regierung aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten setzt den eingeleiteten Wachstumskurs seither fort, jedoch mit deutlichen sozialen Akzenten. Dank einer Steuerreform und dank der wegen des Wirtschaftsbooms gestiegenen Staatseinnahmen konnten die Sozialausgaben bis 1992 um insgesamt 42 Prozent gesteigert werden. Mehr als eine Million Chilenen hat unter der Aylwin-Regierung den Sprung aus der Armut in die Mittelschicht geschafft.

Knapp 33 Prozent der Chilenen gelten jedoch weiterhin als arm, vor fünf Jahren waren es 44 Prozent. Die staatlich festgelegte Armutsgrenze liegt derzeit für eine vierköpfige Familie bei 400 DM Haushaltseinkommen im Monat. Ein Kilo Brot kostet etwa 1,20 Mark, ein Liter Limonade 1,30 Mark. Innerhalb Südamerikas ist der Abstand zwischen Arm und Reich nur in Brasilien noch größer als in Chile.

Eine Untersuchung der UNO- Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL belegt, daß 1992 das reichste Zehntel der chilenischen Bevölkerung fast 39 Prozent des Nationaleinkommens einstrich. Das ärmste Zehntel der Chilenen mußte dagegen mit knapp zwei Prozent auskommen. Allen aber geht es heute besser als vor fünf Jahren – auch das zeigt die CEPAL-Studie. So ist seither die Kaufkraft der Einkommen um durchschnittlich 32 Prozent gewachsen, bei den Ärmsten sind es sogar 38 Prozent.

Die neue Regierung setzt ebenso auf die Leistungsgesellschaft wie zuvor die Pinochet-Diktatur – doch gleichzeitig übernimmt der Staat wieder mehr Aufgaben. So ist ein großer Teil der zusätzlichen Steuereinnahmen in Ausbildungsprogramme geflossen, als „Investition in Humankapital“. Damit sollen auch jene Chilenen eine Aufstiegschance erhalten, die eine Ausbildung nicht bezahlen können.

Der Leistungsdruck im Wirtschaftswunderland ist groß. Von einem „brutalen Wirtschaftsmodell, einer Marktwirtschaft ohne Grenzen“ spricht Missionsschwester Karoline, die im Armenviertel Recoleta arbeitet. Die 50jährige sagt aber auch: „Der Druck der Armut ist zurückgegangen.“ Gehungert wird nicht mehr in Chile, die Zahl unterernährter Kinder ist zurückgegangen.

Das Elend ändert sein Gesicht. „Die Probleme heißen jetzt: zu wenige Wohnungen, Gewalt von Jugendbanden, Flucht in die Kokadroge“, sagt Schwester Karoline. Sie will Santiago nach nunmehr 25 Jahren Missionsarbeit verlassen und nach Peru oder Bolivien gehen, „wo es ums Überleben geht“.

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