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■ Mit dem Durchschnittsmann auf du und duAtomares Privatrisiko

Schon vor seiner ersten Megawattstunde hat das Atomkraftwerk Brokdorf zentnerweise Akten produziert. Ein Ende ist nicht abzusehen. Fast sieben Monate vergingen, bis das Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachen und Schleswig-Holstein die schriftliche Begründung eines Brokdorf-Urteils vom 28. Juni 1989 vorlegen konnte. Als es soweit war, gab eine Richterin zu Protokoll, sie könne sich „nicht mehr daran erinnern, ob die Urteilsgründe dem Beratungsergebnis entsprechen“.

Ein schwieriger Fall. Das Bundesverwaltungsgericht hat nun nach weiteren zweieinhalb Jahren entschieden, daß sich die Schleswiger Kammer erneut damit zu befassen habe. Wer nicht mehr wisse, worum es ging, könne kein Recht sprechen, befand die obere Instanz mit einer Schlüssigkeit, die in diesem Fall überrascht. Zu klären ist nämlich eine Frage, mit der kein Gesetzgeber je gerechnet hat. Sie stellt sich trotzdem und lautet: Was darf ein Mensch essen, damit ihm der Schutz des geltenden Atomgesetzes zuteil wird?

Alles, hätten wohl die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes geantwortet, die sich nicht vorstellen konnten, daß eine bloße Verwaltungsvorschrift Persönlichkeitsrechte wie zum Beispiel eine Vorliebe für Gartengemüse und frische Kuhmilch beschränken darf. Aber sie kannten die Atomwirtschaft nicht. Seit 1984 bewohnt der Meteorologe Karsten Hinrichsen ein Haus neben dem Atomkraftwerk Brokdorf, das 1986, wenige Monate nach der Katastrophe von Tschernobyl ans Netz ging. Hinrichsen klagte gegen die Betriebserlaubnis unter anderem mit dem Argument, daß die – unbestritten – erhöhte Strahlenbelastung durch den Fallout aus der Ukraine zu der amtlich erlaubten des neuen Atomkraftwerks hinzuzurechnen sei. Deswegen habe er, Hinrichsen, mit einer höheren Strahlenbelastung zu rechnen als bisher schlimmstenfalls angenommen.

Aber wer ist Karsten Hinrichsen? Einvernehmlich trugen das (sozialdemokratische) Landesministerium und die Betreiber des Kraftwerkes vor, daß „die Berechnung der Strahlenexposition“ nur für „eine fiktive Person“ gelte. Zweifellos also nicht für den realen Meteorologen Hinrichsen, der in seinem Garten Obst und Gemüse anbaut und nach eidesstattlicher Versicherung „mehrfach pro Woche (in der Regel sonntags, mittwochs und freitags) vom Landwirt Reimers aus Wewelsfleth Frischmilch von Kühen bezieht, die in ca. 1 km Entfernung vom Kraftwerk weiden“.

Leider ist der so lange verzögerten Urteilsbegründung nicht zu entnehmen, was denn nun jene „vernünftige Ernährungsweise“ sei, von der der Kläger womöglich aus „Arglist“ abweiche. Nähere Erläuterungen schienen entbehrlich, offenbar genießt der gesündest anzunehmende Durchschnittsmann höheren Rechtsschutz als Brokdorfer Gemüse- und Milchliebhaber. „Wer sich“, schreibt das Gericht, „den in der Störfallberechnungsgrundlage definierten Annahmen zuwider verhält, setzt wesentliche Ursachen für zusätzliche Gefährdungen durch eigenes Verhalten.“

Karsten Hinrichsen bittet Experten und Betroffene um weiteren Sachbeistand für die neuerliche Verhandlung. Die Adresse lautet: Dorfstraße 15 in 25576 Brokdorf. Er hofft immer noch, Licht in das Dunkel der statistischen „Referenzperson“ zu bringen, an der seine Klage gescheitert ist. Niklaus Hablützel

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