piwik no script img

Im Widerstreit des Ausdrucks

■ Festival „Fließende Grenzen“ mit konzertanter Bach-Collage

Die Idee wirkte arg eklektizistisch. Der in Hamburg geborene Musiker Gunter Pretzel regte befreundete junge Komponisten dazu an, sich mit Johann Sebastian Bachs Suite G-Dur für Violoncello-solo BWV 1007 in Beziehung zu setzen. Parallel dazu wollte er ein Aquarell der Künstlerin Verena Vernunft zeigen. So entstand die konzertante Collage Bach, die am Mittwoch im Rahmen des Festivals der Gegenwartsmusik Fließende Grenzen in der opera stabile aufgeführt wurde.

Daß das Experiment gelang, lag an der stupenden Qualität von Darbietung und Dargebotenem. Es lag aber auch am Konzept. Glücklicherweise hat Pretzel das Motto des Festivals nicht ernst genommen: Anstatt die Grenzen zwischen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten und Epochen zu verwischen, hat er sie hart gegeneinandergesetzt. Die Beziehungen der Elemente ergaben kein Mischmasch des Verschiedenen, sondern einen vielfältigen Widerstreit je in sich stimmiger Ausdruckslogiken.

Nach einem Einleitungsstück von Moritz Eggert — es schien, als müßten die Töne der Viola erst zu sich selber finden — erklang Bachs Suite. Zu deren Aufführung konnte mit Dietmar Schwalke ein Violoncellist gewonnen werden, der ab nächstem Jahr bei den Berliner Philharmonikern unter Vertrag steht. Erst dann spielte Pretzel die modernen Variationen unter Einsatz von elektronischen Verfremdungstechniken solo auf der Viola. Die Arbeiten Wolfgang Andreas Schultz', Peter Michael Hamels, Peter Kiesewetters und Frederik Schwenks nahmen Bachs gleitenden Tonfluß auf, ohne sich ihm auszuliefern, modellierten Themen, zerstörten sie und setzten sie wieder zusammen. So konnte man der Auseinandersetzung mit der Tradition bei der Arbeit zuhören.

Dazu sah man, von Diaprojektoren auf eine Leinwand geworfen, zunächst - nichts. Oder doch fast nichts. Einige helle Punkte sah man und meinte, dies müsse der Sternenhimmel sein. Dann verdichteten sich die Punkte zur Milchstraße, um sich gleich darauf in farbige Flächen zu wandeln, die abstrakter Malerei glichen. Schließlich war ein Gesicht zu sehen. Ein Frauengesicht mit großen schwarzen Augen. Und bald darauf zauberten die programmierten Projektoren das ganze Bild Vera Vernunfts, das in verschiedenen Ausschnitten und Vergrößerungen vorgeführt worden war, in einen Bilderrahmen. So ließ sich zugleich der Arbeit des Sehens zusehen. Alte und neue Musik sowie Malerei kamen nicht auf der Ebene platter Entsprechungen zusammen, sondern darin, auf je eigene Weise unspektakuläre, aber eindringliche Wahrnehmungen zu ermöglichen. Zusammen ergaben sie: eine Schule der Aufmerksamkeit. Dirk Knipphals

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen