: Jüdisch wie Bette Middler
Können die jüdischen Kulturtage Berlin die schlafenden deutschen Gemeinden wachküssen? Ein Gespräch mit den Organisatoren Andreas Nachama und Zafrir Cohen von der Jüdischen Gemeinde Berlin
Zum siebten Mal finden vom 14. bis 27. November in Berlin jüdische Kulturtage statt; wie zuvor Osteuropa wird in diesem Jahr jüdisches Leben und Denken in Kalifornien im Zentrum stehen. Andreas Nachama, der für neun Monate auch Generalsekretär der jüdischen Gemeinde war, wurde in Deutschland vor allem durch die Ausstellung „Jüdische Lebenswelten“ bekannt, die erstmalig weder eine Judaica-Show noch eine Ausstellung zum Thema Holocaust war. Zafrir Cohen hat die diesjährigen Kulturtage mitorganisiert.
taz: Warum sind gerade Los Angeles und Kalifornien der Schwerpunkt der diesjährigen Kulturtage geworden?
Nachama: Auf verschiedenen Amerikareisen im Lauf der 80er Jahre hatte ich den Eindruck, daß eben nicht New York, sondern Los Angeles das intellektuelle Zentrum für neue Konzepte jüdischen Denkens war und ist. Auf der einen Seite ist da das Holocaust Museum, in dem Jüdisches vor allem mit dem Gedenken und dessen Institutionalisierung verbunden wird, wie sie in den 70er und 80er Jahren üblich war. Auf der anderen Seite gibt es da die Zeitschrift „Tikkun“, deren Herausgeber Michael Lerner behauptet, es gäbe andere Dinge neben dem Holocaust, die eine Klammer für die moderne jüdische Identität bilden können. (Exponenten beider Flügel treffen auf den Kulturtagen in Berlin zum Teil erstmalig direkt zusammen, d.R.). Was mich persönlich sehr fasziniert hat, ist, daß sich die Gemeinde dort ständig verändert. Inzwischen ist der erste schwule Rabbiner mit eigener Synagoge dort fast eine Selbstverständlichkeit. Inzwischen ist Michael Lerner nach New York umgezogen, das heißt, die „Tikkun“- Ideen vom jüdischen Feminismus, der „Politics of meaning“ und so weiter haben sich über ganz Amerika ausgebreitet.
Es gibt außerdem einen eklatanten Bruch zwischen der jungen, der mittleren und der Immigrantengeneration: Die heutigen Studenten gehen an die Universitäten, um das Jiddisch ihrer Groß- oder Urgroßeltern zu lernen, und die Generation, die hart daran gearbeitet hat, diese Wurzeln loszuwerden, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
Wollen Sie die Diskussionskultur in Los Angeles als eine Art Aphrodisiakum für die deutsche Gemeinde benutzen?
Nachama: Die Diskussionskultur ist ja da; aber man muß thematische Impulse geben, Exponenten unterschiedlicher Richtungen kennenlernen, nicht bei Martin Buber und Leo Baeck stehenbleiben! Man sieht: Die Bibel des amerikanischen jüdischen Feminismus, Judith Plaskows „Standing Again at Sinai“ ist vor kurzem hier erschienen. Wir importieren da etwas in der Hoffnung, daß alle zumindest in die Lage versetzt werden, bewußt etwas zu verwerfen, statt es erst gar nicht zu kennen.
Ich sehe von dieser innerjüdischen Diskussionskultur nicht viel, außer vielleicht der Zeitschrift „Babylon“, die aber einer bestimmten intellektuellen Frankfurter Tradition entstammt und nicht unbedingt repräsentativ für den Gemeindealltag ist.
Cohen: Es gibt eine Art „außerparlamentarische Opposition“, aber die vertretenen Partialinteressen, sind zum Teil regelrecht esoterisch ...
Nachama: Aber die Kulturtage finden nicht außerhalb der Gemeinde statt, sondern dienen als Forum, um neue Ideen zu diskutieren...
Sie werden doch nicht behaupten, daß die offizielle Gemeinde öffentlich darüber diskutiert, wie man sich verhält, wenn es zum Beispiel um die Debatte mit dem nationalen Mahnmal in der Neuen Wache geht.
Cohen: Da spielen drei Dinge eine Rolle. 1851 lebten in Los Angeles ganze acht Juden unter den 2.000 Bewohnern, wenn die einen Rabbiner haben wollten, haben sie ihn aus Deutschland geholt. 1851 war Berlin das Zentrum der Reformbewegung in der Welt, nicht nur in Deutschland. Und heute sind diese acht Juden in Berlin, und in Los Angeles leben 600.000 Juden, mehr als jemals im gesamten Deutschen Reich gelebt haben. Man kann nicht in Neustadt an der Weinstraße eine Reformbewegung fortsetzen.
Zweitens: In Deutschland hat die jüdische Gemeinde ein spezielles Problem mit der Veröffentlichung innerjüdischer Auseinandersetzungen, immer noch denken sie: „Was sagen die Goyim?“, und lassen nichts durchdringen.
Drittens: In Deutschland gibt es ganz allgemein einen sehr zurückhaltenden Umgang mit Öffentlichkeit: Wer, mit wenigen Ausnahmen, schreibt über die Mafia in Leipzig? In Amerika wird alles öffentlich gemacht.
Für die „Fortgeschrittenen“ mag ja interessant sein, daß Juden in Los Angeles über Feminismus, Homosexualität oder Esoterik diskutieren. Aber von den zehntausend Leuten in der Berliner Gemeinde sind vielleicht die Hälfte aus der ehemaligen Sowjetunion, den meisten muß man das Wort „Talmud“ erst einmal buchstabieren. Die sind Sozialhilfeempfänger, die leben in Mischehen, sind völlig säkularisiert; denen ist doch egal, was mit den Schwulen oder den Rabbinerinnen in Los Angeles los ist.
Cohen: In Amerika ist das doch genauso. Nach Kalifornien ist ja niemand gekommen, um Jude zu sein, da hätten sie es viel leichter gehabt, nach New York oder Philadelphia zu gehen. Sie wollten was ganz anderes werden in Kalifornien, gleichzeitig etwas Neues für sich und für ihre Gemeinde aufbauen. Sie haben Hollywood erfunden, sie haben auch die jüdische Gemeinde neu erfunden. Sie haben sich losgesagt, und trotzdem empfinden sie eine Verantwortung ihrer Gruppe gegenüber, egal ob man Judentum religiös definiert oder ethnisch, wie ich das tue. Für mich ist zum Beispiel Bette Midler genauso jüdisch wie Rabbi Landeis. Manche Leute meinen, in zwei oder drei Generationen gibt es keine Juden mehr, weil die Grundlage des Judentums die Religion ist, und die stirbt aus. Daran glaube ich nicht. Ich bin die dritte Generation kommunistischer Juden, ich weiß ganz genau, daß ich Jude bin, auch wenn ich es nicht immer wahrhaben möchte.
Und was die russischen Juden angeht: Die interessieren sich für westliche Kultur, und wir bieten ihnen mit den Kulturtagen ein Festival, das nicht nur Jüdisches, sondern auch etwas Universelles transportiert. Vielleicht wollen sie ja nur die Nachtshows auf RTL sehen, aber dann kann ich auch nichts machen. Diesen universellen Anspruch haben, das heißt: Ich präsentiere keine Folklore, nicht „Jiddl mitn Fiddl“, sondern eine Reihe von Künstlern, die sagen: Ich bin Jude und mache das und das. Ein Allen Ginsberg, eine Kathy Acker, die haben etwas Universelles zu sagen und etwas spezifisch Jüdisches, das sie mit sich herumschleppen.
Nachama: Jüdisches Leben entwickelt sich ja nicht aus theoretischen Fragestellungen. Letztes Jahr bei den Kulturtagen zu Osteuropa haben wir gemerkt, daß die plötzlich, im Postkommunismus, anfangen, Texte zu diskutieren, die wir hier vor zwanzig, dreißig Jahren hatten, Sartre, Arendt und so weiter. Mit Kalifornien werfen wir einen Blick in die Zukunft, damit das nicht erst in zwanzig Jahren hier ankommt.
Aber es geht ja wirklich nicht nur um theoretische Debatten oder atmosphärische Veränderungen, sondern auch um die Institutionalisierung dieser Konzepte. In Kalifornien wird auch die patrilineare Abstammung akzeptiert (auch wer nur einen jüdischen Vater hat, wird als Jude akzeptiert. In Deutschland entscheidet die Konfession der Mutter, d.R.).
Nachama: Es kommen durchaus Dinge in Bewegung. Erst vor drei Wochen hat ein orthodoxer Rabbiner eine Bat Mitzwa („Einsegnung“ eines Mädchens) vorgenommen, zähneknirschend vielleicht, aber eben einer veränderten Bedürfnislage gehorchend. Rabbiner Stein führt in seiner Synagoge die Diskussion, ob auch Frauen zur Thora gerufen werden sollen. Er hat sich noch nicht durchgesetzt, aber die Debatte wird geführt.
Es gehen Gerüchte, diese Kul
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turtage könnten die letzten gewesen sein ...
Nachama: Ich glaube nicht, daß man von dem Konzept, hier unbekannte jüdische Lebenswelten vorzustellen, abgehen möchte. Woran es hapert und womit die Kulturtage einfach überlastet würden, das ist die tägliche Kulturarbeit, die Förderung jüdischer Künstler vor Ort.
Cohen: Ein Problem ist das Gemeindezentrum. Heute habe ich im Scherz zu einem Besucher gesagt: „Stör dich nicht an dem Kindergeschrei“, denn da herrschte die übliche Grabesstille. In dem Haus müßte es wimmeln von Leuten, jüdischer Alltag müßte da sein. Es ist nach dem Vorbild amerikanischer „Community Center“ gebaut worden, aber es funktioniert überhaupt nicht so.
Man muß sich mal vorstellen, daß die großen Köpfe unter den in Deutschland lebenden Juden, Jurek Becker, Stefan Heym, Henryk Broder, Ernst Tugendhat oder Edgar Hilsenrath, alle nicht Mitglied der jüdischen Gemeinde sind.
Könnte das daran liegen, daß die jüdische Gemeinde in Berlin immer noch eine Strategie verfolgt, wie sie auch im Amerika bis zum Sechstagekrieg verfolgt wurde, nämlich die Strategie des „low- profile“, bloß nicht auffallen, schon gar nicht als ethnische Minderheit? In Amerika wurde diese Strategie ja auch erst fallengelassen, als Ethnizität insgesamt in Mode kam, „Black is Beautiful, and Jewish is also Beautiful“!
Nachama: Die „roots“ spielen da natürlich eine viel größere Rolle als hier ...
Cohen: Die Frage, ob es eine „amerikanisch-jüdische Symbiose“ gibt, wird dort überhaupt nicht gestellt. Da sagt man: Ich bin Jude, und deshalb ist das, was ich mache, jüdisch. Die Frage nach der Symbiose ist etwas Urdeutsches, mich würde einmal interessieren, wie Türken das sehen ...
Aber auch in Amerika ist die Sache mit der Identität nicht mehr so einfach: In Kalifornien sind die Juden plötzlich Teil einer privilegierten Minderheit, sie sind Weiße, sie können sich nicht, wie die deutschen Juden, auf einen Unterdrücktenstatus zurückziehen.
Ist also der entscheidende Unterschied zu den früheren Kulturtagen, daß es früher hauptsächlich um Selbstdarstellung ging und heute mehr um den inneren Jungbrunnen?
Nachama: Ich hoffe, daß es so ist, nicht nur in diesem Jahr, sondern auch nächstes Jahr, in Paris, wo die größte jüdische Gemeinde unseres Kontinents lebt.
Sie haben ja kürzlich das Handtuch geworfen und ihren Posten als Generalsekretär niedergelegt ...
Nachama: Die Katze läßt das Mausen nicht. Ich bin eher Kulturmanager als Verwaltungsleiter: Ich werde mich auf die Leitung der Kulturtage konzentrieren, denn da verspreche ich mir mehr davon, als Aktendeckel für den Vorstand auf- und wieder zuzumachen. Ich hatte ein falsches Bild von dem, was sich da bewegen läßt.
Das Gespräch führten Anita Kugler und Mariam Niroumand
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