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Endlich ein Abenteuerbuch lesen können

■ Die Volkshochschule in Lichtenberg bot als erste in Ostberlin Lese-und-Schreib-Kurse an

Carl und Gunter (Namen geändert) sind in ihrer Phantasie in einem Lebensmittelgeschäft. Carl mimt den Verkäufer und Gunter den Kunden. Bunte Filzstifte symbolisieren Butter, Brot, Kaffee und Wurst, je nachdem, was der Kunde verlangt. Einen grünen Stift greift Carl, wenn Gunter eine Gurke will, einen braunen für Kaffee, ein gelber soll die Kaffeesahne sein. Findet Carl keinen passenden Farbstift, sagt er einfach: „Ham wa nich“, und alle lachen. „Das ist ja wie früher im Osten!“ spinnt Gunter weiter und beschließt: „In den Laden komme ich nicht mehr.“

Was wie ein unterhaltsames Spiel anmutet, ist ein gutdurchdachtes Lernkonzept. Im Unterrichtszimmer, das mit Teppich, Schrankwand, schmiedeeisernen Lampen und Gardinen wie ein Wohnzimmer aussieht, sollen die sieben Teilnehmer des Lese- und Schreibkurses der Volkshochschule (VHS) Lichtenberg im Rollenspiel eine Einkaufsliste zusammenstellen. Die wenigsten von ihnen können Wörter wie Eis, Brot und Wurst lesen oder schreiben. Ines, die Kursleiterin – alle reden sich mit Vornamen und du an –, malt eine Eistüte, einen Brotlaib, einen Wurstzipfel und ein Stück Käse an die Tafel. Erst dann schreibt sie die dazugehörigen Wörter. Wer sie nicht lesen kann, „liest“ die Symbole.

Gunter, der nicht länger auf die Hilfe seiner Frau angewiesen sein will, möchte endlich selber Briefe lesen und Formulare ausfüllen. Auch wenn er seine Lese- und Schreibschwäche nicht versteckt, sondern auf Ämtern oder in Geschäften um Hilfe bittet, ist es ihm „manchmal peinlich“, und er kommt sich „doof“ vor. Als Kind hat der 56jährige, der im Vorruhestand ist, lange Zeit im Krankenhaus gelegen und konnte die Schule nicht regelmäßig besuchen. Nachdem er ohne Abschluß von der Sonderschule abgegangen war, hat er als Glas-und-Gebäude-Reiniger gearbeitet.

Auch Carl, der witzigste der Gruppe – „Spaß muß sein!“ –, will durch den Lese-und-Schreib-Kurs selbständiger werden. Der 30jährige möchte Abenteuerbücher lesen, statt nur spannende Filme zu sehen. Im Restaurant will er das Essen nach der Speisekarte bestellen und nicht immer das gleiche essen. Im Supermarkt will er auch ihm unbekannte Produkte kaufen. „Bei neuen Produkten warte ich immer auf die Fernsehwerbung. Was ich nicht kenne, lasse ich im Regal stehen. Da bleibt viel stehen.“

Bevor Carl, Gunter und die anderen Wörter schreiben können, erklärt ihnen Ines den Unterschied zwischen Buchstaben und Lauten. „Brrrrot“, „Brrrrot“, wiederholt sie so lange, bis alle herausgehört haben, daß nach dem B ein R kommt. Erst dann wird das Wort Brot mit Hilfe von weißen Kärtchen, den Lautkarten, zusammengesetzt. Während Gerd, der wie Gunter als Vorruheständler zu den „älteren Semestern“ des Kurses zählt, von sich aus an die Tafel geht und „Arot“ aufschreibt, sitzt Ines bei Andre. Mit Hilfe einer Nuß will sie ihm den Laut N, den zweiten seines Vornamens, näherbringen. Noch fällt es ihm schwer, die ersten Buchstaben seines Namens zusammenzufügen. In der Zwischenzeit hat Gerd noch mal einen Blick auf das Wort „Arot“ geworfen und aus dem A ein B gemacht. Ines sitzt noch immer bei Andre, dessen Konzentrationsfähigkeit sehr schnell nachläßt. Um ihn muß sie sich besonders intensiv kümmern.

Hausaufgaben sind keine Pflicht. Sie werden nicht, wie in der Schule, abgefragt. Auf freiwilliger Basis werden Collagen geklebt, die etwas über die eigenen Hobbys zum Ausdruck bringen, unter Symbole für Sofa, Hand oder Herz die Wörter geschrieben oder kleine Kreuzworträtsel ausgefüllt.

Ines Leske leitet seit September letzten Jahres den Analphabetenkurs in Lichtenberg. Zu Semesterbeginn hatten sich fünfzehn Personen für „Lesen und Schreiben für Erwachsene von Anfang an“ eingeschrieben. Nach Beratungsgesprächen wurden große Niveauunterschiede festgestellt und zwei Gruppen gebildet. In der zweiten Gruppe, die der Anfänger mit fortgeschrittenen Kenntnissen, lernen Legastheniker. Eigentlich sind sieben bis acht Personen eine optimale Gruppenstärke. Ganz ideal jedoch wäre, im team-teaching unterrichten zu können. Das hieße, daß je zwei Lehrer zusammen eine Gruppe unterrichten. „Dann könnte man sich jedem einzelnen noch viel intensiver widmen und gleich sehen, wenn jemand nicht so richtig mitkommt“, erklärt die angehende Diplompädagogin. Das wäre aber unverhältnismäßig teuer, bedauert die Fachbereichsleiterin Maria Corsten. „Dann müßte man ja quasi das Doppelte zahlen.“ Und das ist aufgrund der begrenzten Mittel nicht möglich.

Auch Barbara Münzer, Referatsleiterin für Alphabetisierung bei der Senatsschulverwaltung, wünscht sich mehr team-teaching. Vor drei Wochen trafen sich Kurs- und Fachbereichsleiter und freie Träger zu einer Fachtagung. Dabei wurden weitere „Idealbedingungen“ diskutiert: Kursfortführung auch in den Sommerferien, kursbegleitende Beratung von je zwei Stunden pro Woche während der gesamten Kursdauer. Barbara Münzer ist angesichts der derzeitigen Sparpolitik jedoch pessimistisch, daß diese Vorstellungen in absehbarer Zeit umgesetzt werden können. Statt pauschale Summen vom Land Berlin an die Bezirke zu zahlen, würde Maria Corsten gesonderte Gelder für die Alphabetisierungskurse begrüßen. Denn: „Wenn die Schule versagt hat, muß der Staat das wiedergutmachen. Es handelt sich ja nicht um Kurse, in denen zusätzliches Wissen vermittelt wird, sondern um Grundwissen zum Existieren.“ Barbara Bollwahn

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