: Gesten mit Konsequenzen
Bist du ein „carpet-eater“? Bin ich ein „head-knocker“? In Chicago reklamieren Künstler Zuständigkeit für solche Fragen. Sie intervenieren im öffentlichen Raum und machen die Stadt zur sozialen Skulptur ■ Von Claudia Büttner und Martin Zeyn
Unbehauene Kalksteinbrocken brachten den Fußgängerstrom auf den Gehwegen der Chicagoer Innenstadt ins Stocken. Sockellose Monumente, der Chic des Spröden in ungewohnter Umgebung. Eine Kunstausstellung in der Innenstadt. Wie seinerzeit in Münster. Wie in Genf, Graz und Berlin. Daß auf den hundert kleinen Bronzeplatten ausschließlich Namen von Chicagoer Frauen standen, die hier erstmalig für ihre Verdienste gewürdigt wurden, leuchtete unmittelbar ein. Aber Suzanne Lacys „Full Circle“ entsprach nur dem Standard in Sachen skulpturale Qualität und politischer Anspruch neuer Denkmäler. Für solche Plastiken gibt es nach Dutzenden von Kunstprojekten im Außenraum bereits ein routiniertes und rezeptionserfahrenes Publikum.
„Culture in Action“, ein „Ausstellungs“-Projekt, konzipiert von Mary Jane Jacob und ausgerichtet von Sculpture Chicago, hatte in der Arbeit Lacys ihren schwächsten Punkt: Selbstgefällig, dekorativ und als einzige Arbeit auf den Loop, das schicke Zentrum der Stadt, beschränkt. Daß „Culture in Action“ die Grenzen aller bisherigen Projekte im öffentlichen Raum dennoch überschritt, lag in der Qualität der anderen Arbeiten begründet. Zwei Jahre lang hatten sich die Künstler und Künstlerinnen mit dem Ort und den Menschen vertraut machen können.
Mächtige Granitplatten inmitten einer Stadtbrache, die seit kurzem Eigentum der University of Illinois ist. Die dort stehenden Häuser des alten Einwandererviertels wurden abgerissen, das ganze Gelände umzäunt und mit Schildern versehen. Nur standen auf diesen Schildern keine Verbote, sondern neben einigen philosophischen Zitaten wurde an die Tradition der Streiks und Unruhen in dieser Stadt und besonders in diesem Viertel erinnert. Die Platten stammten von der Bibliothek der Universität, die nicht mehr den Bedürfnissen genügte. Daniel J. Martinez hatte die Granitplatten an diesen Ort bringen lassen, um die Verdrängung der alten Viertel und ihrer Bewohner durch die Universität sichtbar zu machen. So gelang das Projekt der „Dekonstruktion einer Universität“ (Martinez). Die rücksichtslose Veränderung der städtischen Strukturen wurde in ihrem Zynismus bloßgestellt.
Aber neben dieser Bloßstellung ging es auch um politische Strategien. Martinez organisierte zusammen mit VinZula Kara einen Straßenumzug gegen die Verdrängungspolitik der Universität. Den beiden Künstlern gelang es dabei, Latinos und Afro-Amerikanern zu einer gemeinsamen Aktion zusammenzubringen: „Consequences of a Gesture“; die Vereinigung der verfeindeten Gruppen ließ tatsächlich an den Titel glauben.
Für „Culture in Action“ entstanden eine Reihe von Arbeiten, die keine Skulptur oder Leinwand hinterließen, ja noch nicht einmal wie etwa Performances präsentierbar waren. Kate Ericson und Mel Ziegler definierten mit Bewohnern einer Sozialbausiedlung Hausanstriche als soziale Indikatoren; Mark Dison initiierte mit Schülern eine Ökologiegruppe; Simon Grennan und Christopher Sperandio versuchten mit zwölf Gewerkschaftern eine selbstbestimmte Produktion aufzubauen; Robert Peters erstellte mit Einwohnern Chicagos eine interaktive Telefondatei, in die Slangnamen für ethnographische, Berufs-, Geschlechts- und andere Gruppen eingegeben und abgefragt werden konnten: Bin ich ein carpet-eater, head-knocker, six-pack ...? Und wer bist du ...? Wie schwer sich diese Arbeiten mit dem tradierten Kanon der Kunstkritik beschreiben ließen, offenbarte die Besprechung Kimmelmans in der New York Times, die vergeblich nach „der Metapher“, nach „Design“- Qualitäten oder den „visuellen Ambitionen“ suchte. „Culture in Action“ und den Künstlern der „new public art“-Bewegung, die seit ihrer Vorstellung auf der Whitney Biennale zunehmend der Kritik ausgesetzt waren, wurde jegliche soziale Wirksamkeit abgesprochen. Die Konzeption der Kuratorin und der beteiligten Künstler zielte jedoch nicht auf kontemplative Rezeption durch das Publikum, sondern auf die Teilhabe der Betroffenen.
Damit entzog sich das Projekt der üblichen innerstädtischen Schnitzeljagd des Ausstellungstourismus nach interessanten „Werken“. Selbst Konzeptkunst und prozessuale Aktionen, so reduziert sie auftreten, sind zu sehen oder zumindest vermittelbar. Persönliche Veränderungen, gruppendynamische Prozesse, Problemlösungsstrategien und soziale Interaktionen in den Nachbarschaften können jedoch nur bedingt in einem (nachfolgend erscheinenden) Katalog dokumentiert werden. Die Aufnahme ihrer „vitalen“ Form erfordert nicht nur Zeit, sondern auch vom Betrachter eine Auseinandersetzung mit dem lebenden Gegenüber, das heißt Kommunikation statt des bloßen Lesens von Zeichen.
Partizipation als zentraler Bestandteil der künstlerischen Konzeption war der gemeinsame Nenner von „Culture in Action“. Die Künstler schufen keine Zeichen ihrer Sicht sozialer Mißstände, sondern stellten Kommunikationswege und -strategien für eine selbstbestimmte Aneignung dieser Themen bereit. Eines der aktuellen sozialen Probleme, die Aids- Infektion, wurde von der Chicagoer Künstlergruppe Haha nicht metaphorisiert und als Krankheit stilisiert, sondern als eine gemeinschaftliche Aufgabe aufgefaßt. Haha organisierte eine Gruppe von freiwilligen Mitarbeitern, die in einem Laden Hydrokulturen anbaute, um Aidskranken eine bessere Ernährung zu gewähren und gleichzeitig mit der organisatorischen Arbeit Außenstehende und Interessierte in eine aktive Auseinandersetzung einzubinden.
„Die Amerikaner hassen Kids“, sagte Paul Teruel, Mitarbeiter bei Communication TV Network, einer Organisation junger Videomacher, die in der Tradition politischer Medienarbeit steht. „Die Erwachsenen wollen nichts von jungen Erwachsenen wissen, sie wollen sie nicht reden hören.“ Teruel beriet den Künstler Inigo Manglano-Ovalle und Street-Level-Video, eine Gruppe von 15 Jugendlichen. Die Jugendlichen beschrieben in ihren Videos Themen aus ihrem Alltag und erarbeiteten dabei eine eigene Formensprache. „Ich bin seit Jahren Künstler. Zuerst habe ich Graffiti gesprüht. Dann habe ich das Medium gewechselt, weil ich glaube, damit meine Generation besser zu erreichen“, erklärte einer der Jugendlichen, sechzehn Jahre alt. Diese Erfahrung im Umgang mit künstlerischen Mitteln wurde in den Videos sichtbar. Etwa wo das Revierverhalten der Gangs ironisch gebrochen wurde, indem in etwa dreißig Szenen Fragen zu Mein- Dein hintereinander geschnitten werden. Aber nicht immer wurde ironisch gespielt. Etwa wenn Jugendliche von ihren Kameraden berichten, die beteiligt oder unbeteiligt bei Gang-Auseinandersetzungen erschossen wurden. In der Anordnung von Grabsteinen, mit Podesten und Lämpchen davor, wurde dieses Video auf über zwanzig Fernsehgeräten gezeigt. Nicht in einer Galerie, sondern in einer Baulücke in der Erie Street im Latino-Viertel. Die Anwohner gaben ihre Aussagen und den Strom dafür. „Die Leute, die vor Angst kaum noch auf die Straße gehen, die die Welt nur noch durch ihren Fernseher wahrnehmen, haben uns mit Energie versorgt“, sagt Manglano-Ovalle. „Die dicken Kabel waren für mich ein sichtbares Symbol für Interaktion.“
Die Kabel wurden nur einen Tag genutzt. Vielleicht läßt sich der Moment von „Culture in Action“ wiederholen. Das Projekt wurde Ende September abgeschlossen. Die Arbeiten der Gruppen um Dion, Haha, Manglano-Ovalle und Martinez bestehen – mit und ohne Beteiligung der Künstler – fort.
Ein Katalog zur Ausstellung erscheint voraussichtlich erst Ende 1994 bei Rizzoli. Kontakt: Sculpture Chicago; 20 North Michigan Avenue, Suite 400 Chicago, IL 60602. Tel: 312-456-7140; Fax: 312-759-8117
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