piwik no script img

„Von zwei Zeitungen brennt kein Haus“

Neue Wende im Fall des Mordanschlags in Solingen: Beschuldigter nimmt Großteil seines Geständnisses zurück / Möglicherweise sitzen mutmaßliche Täter zu Unrecht in U-Haft  ■ Aus Solingen Bernd Siegler

Im Fall des Mordanschlags in Solingen steht die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe bald mit leeren Händen da. Bereits einen Tag nach dem Brandanschlag, bei dem in der Nacht zum Pfingstsamstag fünf türkische Staatsangehörige ums Leben kamen, nahm die Polizei den 16jährigen Christian R. als mutmaßlichen Täter fest. Vier Tage später folgten drei weitere Männer, die von R. in seinem Geständnis belastet wurden. Inzwischen hat R. jedoch während der Exploration zum psychiatrischen Gutachten einen Großteil seiner Aussagen zurückgezogen. Fast ein halbes Jahr nach dem verheerenden Brandanschlag verdichten sich damit die Hinweise, daß zumindest drei der vier als mutmaßliche Täter Inhaftierten zu Unrecht in Untersuchungshaft sitzen. R. sagt jetzt aus, daß er alleine gehandelt und nur zwei brennende Zeitungen in der fraglichen Nacht in den Eingang des von mehreren türkischen Familien bewohnten Hauses in der Unteren Wernerstraße in Solingen geworfen habe. Von dem, was er gemacht habe, brenne kein Haus ab, betonte der 16jährige.

Bereits Mitte September (die taz berichtete) war die Bundesanwaltschaft mit ihren Ermittlungen in Solingen ins Gerede gekommen. Rechtsanwälte und Eltern der beiden Mitbeschuldigten Felix K. (16) und Christian B. (20) waren nach ihren Recherchen zu dem Ergebnis gekommen, daß ihre Söhne zum Zeitpunkt der Tat gar nicht am Tatort gewesen sein können. K. und B. behaupten, während der Tatzeit zusammen mit dem ebenfalls beschuldigten 23jährigen Markus G. in einer Privatwohnung Musik gehört und getrunken zu haben. Rechnet man zudem selbst die von der Bundesanwaltschaft unterstellten zeitlichen Abläufe in jener Nacht hoch bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Feuer ausgebrochen ist, dann können, so Rechtsanwalt Ohliger aus Solingen, die drei „nicht rechtzeitig am Tatort gewesen sein“. Auch bezüglich Herkunft, Art und Behältnis des Brandbeschleunigers widersprechen Gutachten und Aussagen der Version der Bundesanwaltschaft diametral. Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Georg Greeven, Verteidiger des 16jährigen Felix K., wirft dem Bundeskriminalamt „leichtfertige und vorschnelle Schlußfolgerungen“ vor.

Greeven dürfte sich jetzt zusätzlich bestätigt sehen durch das Gutachten von Professor Christian Eggers aus Essen. Der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte im August mehrere lange Gespräche mit R. geführt. Kurz nach seiner Verhaftung am 30. Mai hatte R. noch behauptet, er habe die Tat allein begangen. Dann erstellte die Bundesanwaltschaft aufgrund seiner Aussagen drei Phantomfotos von Skinheads, mußte aber den Fahndungsaufruf nach neuen Angaben von R. wieder zurückziehen. Am 3. Juni beharrte R. in einer weiteren Vernehmung darauf, die Tat alleine begangen zu haben. Nach acht Stunden wurde diese Vernehmung unterbrochen. Nach der Pause nannte R. dann plötzlich die Namen von G., K. und B. als Mittäter. An anderer Stelle stellten die Vernehmungsbeamten in einem Vermerk jedoch klar, daß R. die Namen von der Polizei erfahren hatte und bei einer Lichtbildvorlage den von ihm beschuldigten Christian B. nicht erkennen konnte. Nach 13 Stunden Vernehmung unterschrieb R. dieses Geständnis, das fortan der Bundesanwaltschaft als Basis nicht nur für den Haftbefehl gegen die vier jungen Männer, sondern auch als alleinige Grundlage für die weiteren Ermittlungen dienen sollte. Nach dem Geständnis seien „andere Spuren gar nicht mehr verfolgt worden“, kritisiert Rechtsanwalt Greeven das BKA.

Angeklagter will Beamte „verarscht“ haben

Gegenüber dem Psychiater widerrief jetzt R. wesentliche Teile seines Geständnisses. Er rühmt sich, die Vernehmungsbeamten des Bundeskriminalamtes „verarscht“ zu haben. Er habe keinen Brandbeschleuniger verwendet, nur zwei Zeitungen angezündet, und das alleine. R. gibt an, daß die Vernehmungsbeamten ihm alle Details der Tat, die jetzt von der Bundesanwaltschaft als Beweis für seine Glaubwürdigkeit und für die Mittäterschaft der drei anderen Beschuldigten angeführt werden, vorgehalten hätten. Er habe immer nur die Vorhaltungen bestätigt oder so lange herumgeraten, bis die Vernehmungsbeamten zufrieden gewesen seien. Das betreffe den Treffpunkt, den Brandbeschleuniger und das Motiv, eine Schlägerei nach einem Polterabend. Warum dann aber tatsächlich die Gutachter einen Brandbeschleuniger, nämlich das nur schwer erhältliche Naturterpentin, festgestellt haben und das ganze Haus im Nu in Flammen gestanden hat, kann sich R. nicht erklären. Daß er die Wahrheit selbst nicht wisse, bezeichnet er als „komisch“.

R. versteht auch nicht, warum Markus G. eine Tatbeteiligung gestanden habe, obwohl der 23jährige gar nichts gemacht habe. Er bezweifelt, daß Markus G. sein Geständnis freiwillig und ohne Druck abgelegt hat. Markus G. hatte nach seinem Geständnis vor dem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof widerrufen und erklärt, er sei von dem Vernehmungsbeamten unter Druck gesetzt worden. Nach weiteren Verhören durch die Polizei und ohne Anwesenheit eines Anwalts gestand er erneut. Seine Aussagen decken sich aber in wesentlichen Teilen nicht mit dem damaligen Geständnis von Christian R.

Die Rechtsanwälte Greeven und Ohliger wollen eine Zusammenstellung aller Ungereimtheiten dem zuständigen Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof zusenden, um so eine Haftprüfung für ihre Mandanten zu erreichen. Die Bundesanwaltschaft lehnt weiterhin jeden Kommentar zum Stand der Ermittlungen und den Ungereimtheiten ab.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen